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Die Mädchenwiese

Die Mädchenwiese

Titel: Die Mädchenwiese
Autoren: Martin Krist
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Jedes Mal, wenn er die schwerbeladene Schubkarre zum Misthaufen schob und mir dabei zuzwinkerte, als würde die schwere Last ihm nichts anhaben können, fürchtete ich, er käme am Abend nicht mehr heil zurück zu seiner Frau Hilde. Aber selbst wenn mein Onkel nicht gewesen wäre, hätte dies nichts daran geändert, dass ich glücklich war.
    Auch als Regina und ich mit zwölf Jahren in den Gruppenrat der Klasse gewählt wurden und ich kurz darauf bei einem Pionierausflug meinen ersten Freund Harald kennenlernte, war es immer noch mein festes Ziel, die Tradition meiner Familie fortzuführen.
    Harald war es auch, der mich wenige Wochen nach meinem dreizehnten Geburtstag vom Herbstfest nach Hause begleitete. Die Stern-Combo Meißen hatte an jenem Abend auf dem Dorfplatz gespielt. Damals war sie noch weit entfernt von ihrer späteren Berühmtheit.
    Es war ein schöner Abend in Finkenwerda gewesen, und während Harald auf dem Heimweg meine Finger mit seiner Hand umschlossen hielt, entschied ich im Stillen, ihn in naher Zukunft meinem Vater vorzustellen. Ich war überzeugt, dass Harald – groß und stämmig wie mein Vater – ihm gefallen würde. Deswegen erlaubte ich Harald auch, kaum dass wir die Hofeinfahrt erreichten, mir zum Abschied einen ersten Kuss zu geben.
    Als er sich mit spitzen Lippen zu mir hinabbeugte, neigte ich mich verwundert zur Seite. »Warum brennt im Stall noch Licht?«
    Ehe Harald antworten konnte, flog die Haustür auf. Meine Mutter erschien im Rahmen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
    »Mama«, rief ich schockiert.
    Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme. Mein Onkel tauchte hinter ihr auf. Er stützte sie.
    Ich verstand nur ein Wort. »Papa.«
    Erst in diesem Moment bemerkte ich den Krankenwagen vor dem Stall.
    Kapitel 4
    Laura stand im Flur und wartete vergeblich auf eine Antwort ihrer Tochter. Sie legte ihre Handtasche auf das Sideboard, ging zum Treppenabsatz und rief: »Lisa? Bist du in deinem Zimmer?«
    Sie stieg die Stufen empor. Bestimmt liegt Lisa im Bett , flüsterte sie.
    Doch das Zimmer ihrer Tochter war leer. Dort herrschte nur das übliche Durcheinander. Kleidung war auf dem Boden und auf dem ungemachten Bett verstreut. Die Bettdecke war zerknüllt, und unter dem Kopfkissen lugte ein Glätteisen für die Haare hervor. Unter dem Bettgestell lagen Sneakers neben Sandaletten, dazwischen ein Haufen CD s, zerlesene Taschenbücher von Stephen King und Stephenie Meyer.
    Unzählige Male hatte Laura schon mit ihrer Tochter über das Chaos in deren Zimmer gestritten. Trotzdem schaffte Lisa es nicht, auch nur halbwegs Ordnung zu halten. In letzter Zeit glich alles, was sie tat, einer stummen Rebellion.
    Auch im Badezimmer befand sich Lisa nicht. Laura sah im Spiegel lediglich ihr eigenes Gesicht, die Sorgenfalten und die dunkel umrandeten Augen, die ungemachten Haare, in deren Schwarz sich erste graue Spuren schlichen. Sie nahm ein Haargummi und band ihre wilden Strähnen zu einem Pferdeschwanz.
    Ohne große Hoffnung begab sie sich hinunter in das Wohnzimmer, einen kleinen gemütlichen Raum mit Möbeln im Landhausstil. Auch die Fotos an der Wand waren in rustikale Holzbilderrahmen eingefasst. Ein Bild zeigte Sam grinsend mit einer Zahnlücke, ein anderes eine fröhliche Lisa. Ja , dachte Laura und verspürte einen Stich im Herzen, früher war alles anders . Auf einem dritten Foto war Lisa neben ihrer besten Freundin Carmen abgebildet.
    Laura nahm ihr Handy und wählte deren Nummer.
    Das Mädchen meldete sich sofort. »Hallo, Frau Theis.« Sie war kaum zu verstehen, weil im Hintergrund laut geschrien und gelacht wurde.
    »Carmen, wo bist du?«
    »In der Schule, also, ich meine, im Bus. Sie wissen doch, heute ist der Ausflug.«
    »Und Lisa ist nicht bei dir?«
    »Hat Frau Bertrams Sie nicht …«
    »Doch, hat sie. Aber Lisa wollte doch heute gemeinsam mit dir zur Schule.«
    »Nein, wir wollten uns heute Morgen auf dem Schulhof treffen.«
    »Moment mal.« Als Laura die Küche betrat, rutschte Sam vom Stuhl und ging zum Gäste- WC im Flur. Auf dem Tisch ließ er seine beiden Sandwiches zurück, ein halb geleertes Glas mit Orangensaft, daneben den offenen Tetra Pak. Der Schraubverschluss lag auf den Fliesen. Laura bückte sich und hob ihn auf. »Lisa hat mir am Freitag gesagt, sie würde das Wochenende bei dir und deinen Eltern verbringen und am Montag, also heute, mit dir zur Schule fahren.«
    Carmens Antwort kam zögernd: »Äh, na ja …«
    »Also war sie nicht bei dir?«
    »Äh, nein, Frau
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