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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin
Autoren: Roy Baumeister
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nächsten Morgen, vielleicht habe sie sich gerade verlobt, vielleicht sei sie auch einfach nur betrunken gewesen.
    Doch ohne Selbstdisziplin wäre keine Künstlerin in der Lage, einen Song nach dem anderen zu schreiben und in aller Welt ausverkaufte Konzerte zu geben. Sie wäre nie in der Radio City Music Hall aufgetreten, wenn sie nicht geübt hätte. Zur Schaffung ihrer Künstlerpersönlichkeit war eine ganze Menge Disziplin erforderlich. Ihr Erfolgsgeheimnis ist etwas, das sie selbst als »ultimatives Zen-Training« bezeichnet: Sie spielte eine lebende Statue. Sechs Jahre lang stellte sich Palmer auf die Straße. Außerdem gründete sie eine Agentur zur Vermittlung von lebenden Statuen, die zum Beispiel bei der Eröffnung eines Bio-Supermarktes reglos am Eingang stehen und Körbe mit ökologisch angebautem Gemüse halten.
    Palmer begann ihre Karriere als Musikerin im Jahr 1998 in ihrer Heimatstadt Boston. Mit damals 22 Jahren war sie ein »angehenderRockstar« und nahm erste Videos auf, aber von der Musik konnte sie nicht einmal die Miete bezahlen. Also stellte sie sich auf den Harvard Square von Boston und bot dort eine Form des Straßentheaters dar, das sie in Deutschland kennen gelernt hatte. Sie nannte sich die Zwei-Meter-Braut. Mit weiß geschminktem Gesicht, in Hochzeitskleid, Schleier, Spitzenhandschuhen und Brautstrauß stellte sie sich auf eine Kiste. Wenn jemand Geld in das Körbchen warf, das sie vor sich auf der Straße aufgestellt hatte, reichte sie ihm eine Blume, doch ansonsten stand sie vollkommen unbeweglich da.
    Passanten beleidigten sie oder warfen mit Gegenständen nach ihr. Andere versuchten, sie zum Lachen zu bringen. Wieder andere schrien sie an, sie solle sich eine richtige Arbeit suchen, und drohten damit, ihr Geld zu stehlen. Betrunkene versuchten gelegentlich, sie von ihrer Kiste zu ziehen oder zu stoßen.
    »Es war nicht immer nett«, erinnert sich Palmer. »Einmal hat ein besoffener Burschenschaftler seinen Kopf an meinem Unterleib gerieben. Ich habe in den Himmel geschaut und mir gedacht: ›Lieber Gott, womit habe ich das nur verdient?‹ Aber in den sechs Jahren bin ich vielleicht zweimal aus der Rolle gefallen. Sie dürfen einfach nicht reagieren. Nicht mal zucken. Sie lassen es einfach über sich ergehen.«
    Die Zuschauer staunten über ihre Ausdauer, und die meisten gingen davon aus, dass es unerträglich sein müsse, so lange still zu stehen. Aber Palmer empfand es weniger als körperliche Belastung. Sie machte beispielsweise die Erfahrung, dass sie besser keinen Kaffee trank, da dieser ein leichtes, aber unkontrollierbares Zittern provozierte. Aber die eigentliche Herausforderung war im Kopf.
    »Das Stehen an sich ist nicht allzu anzustrengend«, meint sie. »Was wirklich Disziplin erfordert, ist, nicht zu reagieren. Ich durfte die Augen nicht bewegen und konnte mir deshalb die ganzen interessanten Dinge, die um mich herum passierten, nicht ansehen. Ich durfte nicht auf Menschen reagieren, die versuchten, mit mir zu kommunizieren. Ich durfte nicht lachen. Ich durfte mir die Nase nicht abwischen, auch wenn mir der Rotz schon übers Kinn lief. Ich durfte mich nicht amOhr kratzen, wenn es mich plötzlich juckte. Und wenn mir eine Mücke auf der Stirn gelandet war, durfte ich sie nicht verjagen. Das war viel schwieriger.«
    Doch obwohl sich die Herausforderung in erster Linie im Kopf abspielte, stellte Palmer irgendwann fest, dass auch ihr Körper litt. Sie freute sich zwar über das Geld, das sie verdiente – in der Regel waren es etwa 50 Dollar pro Stunde –, aber allzu lange hielt sie es nicht durch. An einem normalen Tag stand sie anderthalb Stunden auf ihrer Kiste, machte dann eine Stunde Pause und stellte sich noch einmal anderthalb Stunden hin. Danach war Feierabend. Während der Hochsaison zur Ferienzeit ging sie gelegentlich samstagabends noch auf ein Renaissance-Festival und mimte dort einige Stunden lang eine Elfe, aber danach war sie erledigt.
    »Ich bin halbtot nach Hause gekommen und habe meinen Körper nicht mehr gespürt«, erinnert sie sich. »Ich habe mich einfach in die Badewanne gelegt. Mein Kopf war vollkommen leer.«
    Warum? Sie hatte doch keinerlei Energie verbraucht, um ihren Körper zu bewegen. Sie hatte nicht schneller geatmet und ihr Herz hatte nicht schneller geschlagen. Was hatte sie dann derart ermüdet? Sie hätte sagen können, dass sie ihre Willenskraft eingesetzt hatte, um den Versuchungen zu widerstehen, aber diesen Begriff aus dem 19.
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