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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin
Autoren: Roy Baumeister
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wurden mit einem Beeper ausgestattet 3 , der siebenmal am Tag zu zufälligen Zeitpunkten klingelte; dann sollten die Teilnehmer notieren, ob sie in diesem Moment einen Wunsch oder ein Bedürfnis verspürten oder kurz zuvor eines verspürt hatten. Bei dieser Untersuchung wurden über den ganzen Tag verteilt Zehntausende Momentaufnahmen gesammelt.
    Dabei stellte sich heraus, dass Bedürfnisse und Wünsche die Regel waren, nicht die Ausnahme. In der Hälfte der Fälle verspürten die Testpersonen in dem Moment, in dem der Beeper losging, ein bestimmtes Bedürfnis, und ein weiteres Viertel gab an, in den vergangenen Minuten ein Bedürfnis verspürt zu haben. In den meisten Fällen hatten sie diesen Bedürfnisse nicht nachgegeben. Die Untersuchung ergab, dass wir pro Tag zwischen drei und vier Stunden damit zubringen, Versuchungen zu widerstehen – wenn man die Zeit abzieht, während der wir schlafen, ist das mindestens ein Fünftel des Tages. Anders ausgedrückt: Wenn Sie zu einem beliebigen Zeitpunkt fünf willkürlich gewählte Personen ansprechen, dann widersteht gerade mindestens einer davon mit Hilfe seiner Willenskraft einem Bedürfnis oder einem Wunsch. Aber wir setzen unseren Willen deutlich häufiger ein, denn wir nutzen ihn auch bei Entscheidungen und in einer Reihe anderer Situationen.
    In der Beeper-Untersuchung wurde das Bedürfnis, etwas zu essen, am häufigsten genannt. Gleich darauf folgten das Bedürfnis, zu schlafen, und der Wunsch, die Arbeit liegen zu lassen, um ein Rätsel zu lösen oder ein Spiel zu spielen. Sexuelle Bedürfnisse gehörten ebenfalls zu den am häufigsten unterdrückten, knapp vor dem Bedürfnis nach anderen zwischenmenschlichen Interaktionen wie dem Aufruf von E-Mails, dem Besuch sozialer Netzwerke, Internetsurfen, Musikhören oder Fernsehen. Die Testpersonen verwendeten verschiedene Strategien, um diesen Versuchungen zu widerstehen. Die meisten suchten nach einer Ablenkung oder begannen eine neue Aufgabe, einige versuchten jedoch, das Bedürfnis einfach zu unterdrücken oder es auszuhalten. Alles in allem erlagen sie etwa einem Sechstel der Versuchungen. Sie schnitten relativ gut ab, wenn es darum ging, das Bedürfnis nach einem Nickerchen, Sex oder Konsum zu verdrängen, aber nur mittelmäßig, wenn sie auf etwas zu essen oder auf Softdrinks verzichten sollten. Und beim Versuch, den Verlockungen von Fernsehen, Internet und anderen Formen der Arbeitsvermeidung etwas entgegenzusetzen, scheiterten sie in fast der Hälfte aller Fälle.
    Diese Leistungsbilanz klingt zunächst nicht sonderlich ermutigend, und im historischen Vergleich ist die Ausfallquote vermutlich eher hoch. Wir können natürlich nicht genau sagen, wie viel Selbstdisziplin unsere Vorfahren vor Erfindung der Beeper und der Experimentalpsychologie mitbrachten, doch scheint die Annahme naheliegend, dass die Menschen einst deutlich weniger Versuchungen ausgesetzt waren. Im Mittelalter waren die meisten Menschen Bauern, sie arbeiteten auf dem Feld und nahmen dabei häufig große Mengen Alkohol zu sich. Sie standen nicht unter dem Druck, die Karriereleiter am Arbeitsplatz hochklettern zu müssen, und hatten deshalb auch kaum Anlass, besonders fleißig oder auch nur besonders nüchtern zu sein. In ihren Dörfern gab es kaum Versuchungen, von Alkohol, Sex oder Müßiggang einmal abgesehen. Wenn sie sich trotzdem einigermaßen tugendhaft verhielten, dann vor allem, weil sie unter den Nachbarn keinen Anstoß erregen wollten, und weniger um der Tugend selbstwillen. Den Christen des Mittelalters winkte das Himmelreich, wenn sie die katholischen Rituale einhielten, und nicht weil sie heldenhafte Willenskraft bewiesen.
    Doch als die Bauern im 19. Jahrhundert in die neuen Industriestädte übersiedelten, wurden sie nicht mehr durch Dorfpfarrer, gesellschaftliche Zwänge und universelle Glaubensvorstellungen diszipliniert. Die Reformation hatte die Religion zur Angelegenheit des Einzelnen gemacht, und die Aufklärung hatte den Glauben an Dogmen geschwächt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 4 lebten die Menschen in einer Übergangsphase, in der die moralischen Gewissheiten und starren Institutionen des Mittelalters im Verschwinden begriffen waren. Damals stellten sich viele Menschen die Frage, ob die Moral ohne Religion Bestand haben könne. Viele zweifelten insgeheim an der Religion, doch nach außen hin hielten sie an ihr fest, glaubten sie doch, den Anstand wahren zu müssen.
    Wir mokieren uns heute gern über die
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