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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen
Autoren: Cassandra Negra
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Felsen und blickte in eine weite Landschaft, die aus brüchigen Talwänden bestand. Nur einzelne Felsspitzen, teilweise mit Bäumen bewachsen, waren sichtbar. In der Ferne konnte Wenger einige große Berge erkennen, die hoch hinauf in einen wolkenüberzogenen Himmel ragten.
    Die Täler unter ihm lagen jedoch inmitten der dichten Nebelschwaden verborgen. Es schien, als ob sie etwas verhüllten – etwas Geheimnisvolles, das verdeckt werden musste, weil es so schrecklich, so unvorstellbar grausam war. Immer dichter kamen sie jetzt an ihn heran, als wollten ihn die Nebelschwaden mit sich hinabziehen, hinab ins Nichts, ins Bodenlose. Es war ein furchteinflößender Anblick. Ihn fröstelte.
    Plötzlich glaubte er Schüsse zu hören. Die Geräusche kamen immer näher, und dann war alles dunkel. Er war zurück im Bunker, zurück am Nachmittag des 30. April 1945.
    Er blickte auf seine Uhr, es musste kurz vor halb vier nach mittags sein. Ein einziger Schuss fiel, danach betrat er den benachbarten Raum: Er sah den Führer, der zusammengesunken und mit blutig verschmiertem Gesicht auf dem Sofa saß, neben ihm seine Frau. Sie hatte einen unbenutzten Revolver im Schoß, denn sie hatte Gift genommen.
    Langsam verblassten die Bilder jenes Montags. Jetzt war es an ihm, Abschied zu nehmen. Eigentlich hatte er seinen eigenen Freitod gut vorbereitet, aber jetzt wusste er nicht mehr, ob er wirklich den Mut dazu aufbringen würde. Vielleicht half es, wenn er um Vergebung bat, damit die fremden Mächte ihn nicht mit sich rissen. Er begann ein Gebet zu murmeln.
    »Aus der Tiefe rufe ich zu dir, o Herr. Höre, Herr, auf meine Stimme! Mögen deine Ohren lauschen auf mein lautes Flehen! Wolltest du auf Sünden achten, Herr, wer könnte dann, o Herr, bestehen? Ja, Vergebung ist bei dir, auf dass man dir in Ehrfurcht diene. Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele; ich harre auf sein Wort.« Und während er die Worte aus Psalm 129 sprach, sah er, dass sich drei schwarze Raben auf dem Grabmal niedergelassen hatten. Die gesamte Zeit über mussten sie schon geräuschlos dagesessen haben, bis sie sich mit lautem Picken und krächzendem Lärm bemerkbar machten.
    Für ihn waren es keine Unglücksboten, wie man sie aus der Mythologie her kannte. Für ihn waren es Erlöser, die die Seelen der Verstorbenen vom Diesseits ins Jenseits brachten. Vielleicht hatte sein Gebet ja seine Seele erlöst und ihm damit den Weg in den Himmel geebnet.
    Er ignorierte die schwarzen Vögel und setzte sich unter die schützenden Schwingen seines Engels.
    Die Nacht, die er so sehr liebte, würde bald ihren sicheren Mantel über die Gräber ausbreiten und alles in ein mildes graues Licht tauchen. Vieles von dem, was man am Tag nicht sehen will, deckte sie einfach zu.
    Es war beruhigend, das zu erleben. Bald schon würde der Engel ihn mitnehmen, durch die Nacht in eine hoffentlich bessere Welt. Dort würde er alle wiedersehen – Hitler, Göbbels, Göring und alle, die hier auf diesem Friedhof ruhten.
    Während er vor dem Grab saß, hatten die Kommissare den Friedhof erreicht. Äußerst leise schlichen sie durch das schmiedeeiserne Eingangstor und nahmen zunächst Deckung hinter einem großen Grabmal zur linken Seite. Obwohl sich Max sehr vorsichtig bewegte, knackte ein dürrer Ast unter seinem Fuß. Aber Wenger, der sich einige Meter vor ihnen befand und in den Himmel starrte, schien Gott sei Dank nichts gehört zu haben.
    Gerade wollte die Polizistin ihrem Kollegen ein Zeichen geben, noch zu warten, als Max schon aufsprang und auf den Mörder zu rannte, um ihn zu stellen und zu verhaften. Just in diesem Moment drehte der sich um. Wenger hatte Hofmanns Spiegelbild in der blitzblank polierten Granitplatte des Grabsteins gesehen.
    Eine Sekunde lang blickte er direkt in die Augen des Kommissars, dann zog er abrupt seine 38er aus seinem Mantel und schoss ihm in die Brust.
    Hofmann sackte sofort röchelnd zusammen; Blut trat aus seinen Mundwinkeln.
    Und dann sah der Todgeweihte dieses herrliche Licht, in das er jetzt gehen wollte. Es lud ihn ein, so warm und fast zärtlich strich es um seine Haut. Er konnte es fühlen. Plötzlich erblickte er Sheyla, sie war wunderschön, wie damals an dem Abend bei Lovebird. Verführerisch lächelnd streckte sie ihm ihre Hände entgegen, und als er danach griff, spürte er ein befreiendes Gefühl von Geborgenheit und Liebe, das seinen gesamten Körper durchströmte.
    Lea, die hinter einem Grabstein Deckung gesucht hatte, war wie gelähmt
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