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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen
Autoren: Cassandra Negra
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Hoffnung. Hoffnung, dass sie es vielleicht schaffen konnte, zurückzukehren zu ihren alten Stärken – ihrem unerschütterlichen Optimismus, ihrer Zielstrebigkeit und ihrer Professionalität. Ja, sie würde es schaffen und diese Bestie fassen, die diesen jungen Mädchen auf so abscheuliche, abartige und grauenvolle Art und Weise den Tod gebracht hatte.
    Nach alldem, was sie in ihrem Beruf schon gesehen hatte, und all dem Grauen, das sie schon erlebt hatte, fiel es ihr schwer, noch an das Gute im Menschen zu glauben. Sie hatte den Glauben daran verloren – für immer, denn sie wusste, wozu Menschen fähig waren.
    Noch gut erinnerte sie sich an den Fall ihrer Kollegen, die nach einem sadistischen Kindermörder fahndeten. Wie ein wildes Tier war er über zwei kleine Jungen in einem Waldstück nahe Neubrandenburg hergefallen. Er hatte seine Opfer an Händen und Füßen gefesselt, denn sie sollten sich nicht wehren können. Leiden sollten sie, und zwar möglichst lange – leiden, damit er sich an ihren Schmerzen weiden konnte.
    Über eine Stunde lang hatte er sich an ihnen vergangen – hatte sie ausgefragt, fotografiert, gestreichelt, geschlagen, gewürgt und dann erstochen.
    Noch heute lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, sie zitterte am ganzen Körper, und ein leichter Würgereiz überkam sie, als sie daran dachte.
    Das Böse war zurück, es hatte sich wieder einmal seinen Platz erobert, und noch immer machte es Lea fassungslos und wütend.
    Trotzdem! Sie durfte es nicht zulassen, dass dieses Monster, das die jungen Frauen so grausam und jäh aus ihrem Leben gerissen hatte, einfach so davonkam.
    Was planst du wohl, fragte sie ihn in Gedanken. Sie spürte, dass da etwas vor sich ging. Sie wusste, dass es für ihn wieder an der Zeit war, aktiv zu werden – aber auch Zeit, sein Werk zu Ende zu bringen.
    Wie recht sie damit hatte, konnte die junge Fallanalytikerin nicht ahnen.
    Der Hüne hatte sein neues Opfer, das noch immer sediert war, in die Pathologie gebracht. Er legte sie auf den Obduktionstisch und begann sie zu entkleiden.
    Sein Herz klopfte wild und erwartungsvoll, und seine Erregung stieg mit jeder Minute. Es war, als ob er gerade in diesem Moment nach langem Schlaf wieder zum Leben erwachte. Plötzlich verdichtete sich alles auf das Hier und Jetzt. Er konnte die Spannung kaum noch aushalten, seine Hände begannen leicht zu zittern, während er ihre Bluse durchschnitt und sie ihr vom Oberkörper riss.
    In dem Augenblick, als er sich an die Unterwäsche machen wollte, sah er die Tätowierung auf ihrem Oberarm.
    Er schaute genauer hin, und was er dann sah, ließ ihn schlagartig innehalten: Es waren die Initialen »LAH« unter einem Adler. Er hielt inne. Für einen Moment lang war er vollkom men paralysiert. Damit, dass es noch einmal etwas geben würde, das ihn selbst hilflos machen und aus seinem Ritual herausreißen würde, hatte er nicht gerechnet. Etwas, das ihn vom allmächtigen Täter erneut zu einem ohnmächtigen Opfer werden ließ.
    »Wie kann ich eine Frau töten, die die Initialen der Leibstan darte Adolf Hitlers auf ihrem Oberarm trägt?«, schrie er wie von Sinnen. »Eine Frau, die für den Führer ihr Leben lassen würde? Die alles für ihn getan hätte?«
    Der sonst so abgebrühte Killer war verzweifelt, und in seiner Verzweiflung fing er an zu weinen. Er bat seinen Führer um Vergebung.
    Wie gern hätte er sich jetzt in seine Traumbilder geflüchtet, die ihm immer so viel bedeutet hatten. Dort – in seinen Fantasien – konnte er all die Fähigkeiten besitzen, all den Heldenmut, den er im wahren Leben nie hatte. Nur dort konnte er sich berauschen, sich selbst idealisieren und seine Allmachtsfantasien ausleben. In diesem Moment aber war seine Hilflosigkeit stärker. Er stürzte ab, konnte sich nicht mehr an seine Fiktionen klammern und fiel zurück in frühkindliche Verhaltensweisen. Offenbar die einzige Möglichkeit für ihn, damit umzugehen.
    Nein, er hatte nie gelernt, sich seinen Gefühlen zu stellen, er hatte überhaupt nie gelernt, was Emotionen eigentlich sind. Alles hatte man ihm geraubt. Und genau deshalb war er jetzt so hilflos wie ein kleiner fünfjähriger Junge, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat.
    Genauso saß er jetzt auf seinem Stuhl und kämpfte mit den Tränen. Es konnte doch nicht sein, dass jemand ihm, dem großen Allmächtigen, sein Opfer wegnahm. Nein, dieses Gefühl der Ohnmacht durfte er nicht zulassen. Nie wieder, das hatte er sich geschworen,
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