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Die Lüge

Die Lüge

Titel: Die Lüge
Autoren: Petra Hammesfahr
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einiger bitterer Erfahrungen erinnerte Susanne sich gut an ihr Aussehen, als sie beruflich noch festen Bodenunter den Füßen gehabt hatte, entsprechend gekleidet und dezent geschminkt gewesen war. Und Nadia Trenkler hatte ihr eigenes Gesicht wohl auch schon in schlechten Zeiten im Spiegel betrachtet.
    Nadia fasste sich als Erste, gab einen ungläubig klingenden Laut von sich, murmelte: «Das gibt es nicht», stellte sich vor und meinte lächelnd: «Wir müssen einen Kaffee trinken und feststellen, welcher von unseren Vätern das verbrochen hat.»
    Dass ihr Vater etwas verbrochen haben sollte, konnte Susanne sich nicht vorstellen. Er war bis zu seinem plötzlichen und viel zu frühen Tod ein ehrlicher und rechtschaffener Mann gewesen. Nadia Trenklers Vater kannte sie zwar nicht, dafür kannte sie ihre eigene Mutter umso besser. Treue gehörte für Agnes Runge zu den unumstößlichen Grundwerten. Deshalb war das, was die Frau mit ihrem Gesicht andeutete, völlig ausgeschlossen.
    Und sie wollte sich nicht mit Nadia Trenkler auseinander setzen. In den ersten Minuten wollte sie es wirklich nicht. Das hatte nichts mit einer bösen Vorahnung zu tun. Es war nur die Situation an sich. Nadia Trenkler saß in einem Zug, der für sie längst abgefahren war. Sie musste zusehen, dass sie wenigstens die nächste Bummelbahn erwischte, wollte sie nicht ganz auf der Strecke bleiben.
    «Ich bin in Eile», erklärte sie. «Ich muss zu einem Vorstellungsgespräch.» Der letzte Satz huschte ihr gegen ihren Willen über die Lippen, vielleicht weil sie nur selten Gelegenheit hatte, mit anderen zu sprechen.
    «Bei Behringer?», erkundigte sich Nadia überrascht.
    Susanne fragte sich keine Sekunde lang, wie ihre Doppelgängerin das so treffend erraten hatte. Sie nickte automatisch.
    «Das wird ja nicht ewig dauern», sagte Nadia. «Ich warte.»
    Nun schüttelte Susanne energisch den Kopf. «Ich will nicht,dass Sie warten. Ich will mit Ihnen keinen Kaffee trinken, weder über meinen noch über Ihren Vater reden. Ich will nicht wissen, wer Sie sind. Verstehen Sie? Es reicht mir, zu wissen, wer ich bin.»
    Und das wusste sie in dem Moment ganz genau. Wenn sie den Job als Schreibkraft bei Behringer und Partner nicht bekam, war sie so ziemlich am Ende. Es gab für eine Frau in ihrem Alter und mit ihrem Hintergrund vielleicht noch ein paar Hoffnungen und den eisernen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nur gab es auf dem Arbeitsmarkt leider keine nennenswerten Chancen.
    In absehbarer Zeit müsste sie sich gezwungenermaßen mit den Kleinanzeigen im Stellenmarkt der Wochenendausgabe beschäftigen, um nicht auch noch ihre Mutter zu ruinieren. Putzhilfe gesucht – drei Stunden wöchentlich. Bedienung für Gaststätte – aushilfsweise für zwei Abende. Und das wäre das endgültige Aus. Es war ein simples Rechenexempel. Um einigermaßen zu leben und sich wenigstens wieder eine Krankenversicherung leisten zu können, brauchte sie mehrere solcher Stellen. Dann bliebe kaum noch Zeit, Bewerbungen zu schreiben und zu Vorstellungsgesprächen zu gehen. Sie ließ Nadia Trenkler stehen und ging zur nächsten Aufzugkabine. Die, vor der sie standen, war längst wieder oben.
    «Schade», hörte sie die Frau mit ihrem Gesicht noch sagen.
     
    Sie fuhr hinauf in die fünfte Etage zu Behringer und Partner, fühlte sich immer noch schäbig, armselig, elend, alt, verbraucht und vollkommen fehl am Platz. Ein dicker Teppich schon im Vorraum, darauf ein Acrylschreibtisch, dahinter eine junge Frau wie aus einem Katalog für korrekte Geschäftskleidung. Dynamisch sah sie nicht aus, nur überfordert von Susannes Erscheinung und der Überlegung, wiesie ihr begreiflich machen sollte, dass Behringer und Partner keine Immobilien in niederen Preisklassen anboten. Das unsichere Lächeln der Empfangsdame gefror, als Susanne erklärte, sie sei nicht gekommen, um sich bei einer Wohnungssuche beraten zu lassen.
    Sie war noch sehr aufgewühlt von der kurzen Begegnung mit ihrem perfekten Ebenbild und der Bilanz, die sich ihr dabei aufgedrängt hatte. Fast war sie dankbar, dass man sie warten ließ. Erst nach gut einer Viertelstunde wurde sie zum Bürovorsteher vorgelassen. Er hieß Reincke, war ein netter, junger Mann mit einem dünnen Oberlippenbärtchen und umfassend über ihre Situation informiert.
    Nachdem sie sich einige Minuten lang über ihre mangelnden Fremdsprachen- und ED V-Kenntnisse unterhalten hatten, beugte er sich vor und dämpfte die Stimme. «Ich will der
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