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Die Lüge

Die Lüge

Titel: Die Lüge
Autoren: Petra Hammesfahr
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Fenster auf, ging in die Küche und trank zwei Gläser Wasser.
    Um sieben kochte sie ihre Nudelration und putzte sich unmittelbar nach dem Essen sorgfältig die Zähne. Ohne Krankenversicherung war Mundhygiene das oberste Gebot. Um acht schaltete sie den Fernseher ein, streckte sich auf der Couch aus und träumte von der Zukunft. Wenn sie wieder über einregelmäßiges Einkommen verfügte, das Loch in der Alterssicherung ihrer Mutter gestopft und einen Notgroschen auf die Seite gelegt hatte, wollte sie zuerst einen neuen Kühlschrank kaufen, sich dann eine größere, vor allem ruhige Wohnung suchen und vielleicht sogar einmal in Urlaub fahren.
     
    Freitags traf sie bei den Briefkästen mit Heller zusammen. Sie wusste bloß seinen Nachnamen, und außer ihm kannte sie im Haus nur ihre unmittelbare Nachbarin Jasmin Toppler näher. Mit Jasmin verstand sie sich gut, sie grüßten sich, wechselten ein paar Worte, wenn sie sich zufällig im Treppenhaus begegneten. Jasmin Toppler war Ende zwanzig, hatte ein energisches, aber freundliches Wesen. Heller dagegen war ein widerlicher Kerl, dem sie lieber aus dem Weg ging. Keine Gelegenheit ließ er aus, sie anzupöbeln. Er war etwa in ihrem Alter und lebte in der Straßenwohnung im zweiten Stock. Im Haus ging das Gerücht, er sei mehrfach vorbestraft wegen Autodiebstahl, Körperverletzung, versuchter Vergewaltigung und anderer Delikte.
    Mit einer Bierdose in der Hand stand er bei der offenen Haustür, als sie die Treppen hinunterkam, um ihren Briefkasten zu kontrollieren. Heller hörte ihre Schritte und drehte sich um. Mit der freien Hand zeigte er hinaus auf die Straße. «Geiler Schlitten», sagte er. Was er meinte, blieb ihr verborgen. Und da er normalerweise sie mit Ausdrücken wie geil, scharf oder heiß belegte, beachtete sie ihn nicht. «Ein MG», erklärte er gewichtig. «Hab ich vom Fenster aus gesehen. Der fährt jetzt schon zum dritten Mal hier vorbei. Und so langsam, als ob er was sucht.»
    Er trat einen Schritt auf die Straße hinaus, teilte mit: «Jetzt hält er.» Dabei verrenkte er sich fast den Hals. Offenbar ging es um ein Auto, das ein Stück vom Haus entfernt angehalten hatte.
    Sie war erleichtert, dass seine Beobachtung ihn beschäftigte und er sie nicht wie sonst mit obszönen Sprüchen belästigte. Der Briefkasten war leer, für eine Reaktion von Behringer und Partner war es ja auch noch zu früh. Sie beeilte sich, wieder hinauf in ihre Wohnung zu gelangen, ehe Hellers Interesse an dem Auto erlahmte und er sich auf sie besann.
    Wenig später klopfte es an ihre Wohnungstür. Es war nicht Heller, wie befürchtet, sondern ein junger Mann, der angeblich eine Umfrage zum Thema Arbeitslosigkeit machte. Heller stand auf dem Treppenabsatz und gaffte hinauf. Sie bat den jungen Mann nur herein, um Hellers stierem Blick zu entkommen.
    Unaufgefordert nahm der Mann auf der Couch Platz und bat um ein Glas Wasser. Der Freitag war so heiß wie der Donnerstag, deshalb war an dieser Bitte nichts Ungewöhnliches. Nachdem sie ihm ein Glas gebracht hatte, kreuzte er auf einem Fragebogen ihre Antworten an und stellte für die Statistik etliche Fragen zur Person, ganz allgemein und anonym, wie er versicherte. Geburtsdatum, Geburtsort, verheiratet, verwitwet, geschieden, Zahl der Kinder, Schul- und Berufsausbildung, Geburts- und eventuell Todesdaten der Eltern, Geschwister und so weiter.
    Natürlich sagte sie ihm nicht die Wahrheit. Seit gut zwei Jahren erzählte sie die nicht einmal mehr ihrer Mutter. Agnes Runge glaubte, sie habe eine gut bezahlte Stellung in einer kleinen Firma. Dem angeblichen Meinungsforscher gegenüber behauptete sie, als Sekretärin in einem renommierten Maklerbüro beschäftigt zu sein. Das war ihrer Ansicht nach nicht völlig gelogen, nur der Zeit ein wenig vorgegriffen – bei den Hoffnungen, die der nette Herr Reincke ihr am vergangenen Tag gemacht hatte. Als der junge Mann sich daraufhin skeptisch umschaute, erzählte sie ihm noch, sie sei verpflichtet, ihrem geschiedenen Ehemann monatlich Unterhalt zuzahlen, und unterstütze darüber hinaus ihre bedürftige Mutter mit einem kleinen Betrag, da bliebe für sie selbst nicht viel übrig.
    Als müsse sie für ihre Lügen bestraft werden, war der Briefkasten samstags nicht leer. Einer der vertrauten großen Umschläge steckte darin. Ihre Finger zitterten schon, als sie ihn aus dem Kasten nahm und den Firmenstempel erkannte. Auf der Treppe nach oben zitterten ihr auch die Knie. In ihrem Innern tobte etwas,
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