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Die Lüge

Die Lüge

Titel: Die Lüge
Autoren: Petra Hammesfahr
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ihre Ersparnisse aufgezehrt. Seit April unterstützte ihre Mutter sie – ohne es zu ahnen. Agnes Runge war misstrauisch gegen Fremde und selbst nicht mehr imstande, ihre Konten zu überwachen. Sie war infolge eines Diabetes erblindet, weil sie die Erkrankung aus Angst vor Spritzen lange Jahre unbehandelt gelassen hatte.
    Nach dem Tod ihres Mannes war Agnes Runge finanziell gut versorgt gewesen, hatte eine recht hohe Lebensversicherung ausbezahlt bekommen, das Haus verkauft, in dem Susanne aufgewachsen war, und sich in einem komfortablen Seniorenwohnheim eingemietet, wo sie optimal betreut wurde – für dreitausend Euro im Monat. Die Verwaltung ihrer Alterssicherung hatte sie in die Hände der Tochter gelegt und vertraute darauf, dass Susanne ihr durch geschicktes Anlegen noch viele sorglose Jahre garantierte.
    Stattdessen bediente sie sich. Nicht üppig, wahrhaftig nicht! Sie wollte auch alles zurückzahlen, sobald sie dazu in der Lagewar. Bisher hatte sie sechzehnhundert Euro genommen, vierhundert pro Monat. Nach Abzug der Miete und weiterer Kosten, die eine Wohnung zwangsläufig verursacht, blieben ihr hundert für Lebensmittel und andere Notwendigkeiten wie Briefpapier, große Umschläge, Fotokopierkosten und Porto. Sie ernährte sich hauptsächlich von Nudeln und musste sorgfältig abwägen, ob sie für längere Strecken die Straßenbahn nahm. Für den Weg zu Behringer und Partner hatte sie darauf verzichtet.
    Sieben Kilometer zu Fuß durch die Hitze und die von Abgasen dicke Luft. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, die Bluse klebte am Oberkörper, die Füße klebten in den schwarzen Pumps und schmerzten ein wenig. Es war erträglich, sie spürte es kaum, war bis zu der Sekunde, als die Aufzugtür zur Seite glitt, vollauf mit dieser großen Hoffnung beschäftigt gewesen. Eine Einladung zum persönlichen Vorstellungsgespräch! Nur ein Mensch, der seit einem halben Jahr ohne eigenes Einkommen und schon seit zweieinhalb Jahren ohne Kranken- und Rentenversicherung war, der nach jeder Bewerbung seine Unterlagen entweder mit einem lapidaren Absageschreiben oder gar nicht zurückerhielt, konnte ermessen, was das bedeutete.
    «Sind Sie jung, dynamisch und leistungsbereit?», hatten Behringer und Partner in ihrer Anzeige gefragt und erklärt: «Dann warten wir auf Sie! Wir bieten   … Wir erwarten   …» Alt fühlte Susanne Lasko sich nicht mit ihren siebenunddreißig Jahren. Ihre Dynamik mochte in den letzten Monaten ein wenig gelitten haben. Aber leistungsbereit war sie – und lernfähig.
    Sie lernte sogar sehr schnell und käme garantiert auch mit einem Computer zurecht, wenn man sie in Ruhe daran werkeln ließ. Bei ihrer letzten regulären Anstellung, drei Wochen bei einer Versicherung, war sie am Textprogramm kläglichgescheitert, weil ein junger Kollege sie mit scherzhaften Ratschlägen versorgte statt mit einem Handbuch.
    Und Fremdsprachen: Während ihrer Schulzeit hatte ein Lehrer festgestellt, dass sie über eine außergewöhnliche Sprachbegabung verfügte. Man setzte sie für eine halbe Stunde neben das Kind eines italienischen Gastarbeiters oder den Sprössling einer Familie, die aus dem Osten geflohen war, und schon konnte sie radebrechen oder sächseln, als hätte sie nie anders gesprochen. Das reichte natürlich nicht für eine Verständigung im geschäftlichen Bereich. Das bisschen Schulenglisch reichte wohl auch kaum. Und von ein paar Redewendungen abgesehen, besaß sie keine Kenntnisse der französischen Sprache, die bei Behringer und Partner ebenfalls Voraussetzung waren.
    Das hatte sie in einem ausführlichen, um nicht zu sagen schonungslosen Bewerbungsschreiben auch mitgeteilt – ohne allzu große Erwartungen. Dass man sie trotzdem einlud, berechtigte wohl zu großen Hoffnungen. Auf dem gesamten Weg hatte sie sich die Worte zurechtgelegt, die sie dem Personalchef – falls es einen geben sollte – sagen musste. Und alles, was sie sich zurechtgelegt hatte, vergaß sie dann für ein paar Minuten.
    Sie starrte die Frau im Nadelstreifenkostüm an, wurde ihrerseits fassungslos und erstaunt gemustert. Menschen drängten sich an ihnen vorbei – murrend oder mit unwilligen Mienen, weil sie den Weg versperrten. Es schien keinem aufzufallen, dass sich vor dem Aufzug zwei Frauen gegenüberstanden, die sich ähnlicher waren als manch eineiiges Zwillingspaar. Vielleicht war es für Außenstehende angesichts der unterschiedlichen äußeren Aufmachung auch nicht so offensichtlich wie für sie.
    Denn trotz
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