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Die Lüge

Die Lüge

Titel: Die Lüge
Autoren: Petra Hammesfahr
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ihr damals noch gar nicht kommen können. Er kam ihr aber auch jetzt übers Erzählen nicht, weil sie der Überzeugung war, er habe in der Zeitung über sie gelesen. Nach dem zweiten Überfall, während sie noch in der Fabrikruine herumkroch, war ein sehr ungünstiger, sogar rufschädigender Bericht erschienen – mit einem Foto von ihr. Die beiden Fehlbeträge waren erwähnt, und es war spekuliert worden, sie habe mit dem Täter gemeinsame Sache gemacht, um zu verschleiern, dass sie Gelder veruntreut habe. Später hatte man einen Widerruf drucken müssen, aber der war vermutlich keinem Menschen aufgefallen. Sie wollte die Sache klarstellen. Doch ehe sie dazu kam,erschien Herr Schrag. Und Röhrler erzählte ihm, sie habe in der Bank tüchtig in die eigene Tasche gewirtschaftet.
    Nadia schaute mit unbewegter Miene auf den Weg vor ihnen, als Susanne Röhrlers Worte wiedergab. «Es war eine Fehlbuchung», versicherte sie. «Ich hätte doch für ein paar tausend Mark nicht meine Stelle riskiert.»
    «Schon gut», beschwichtigte Nadia. «Du brauchst dich vor mir nicht zu rechtfertigen. Wie hat Schrag reagiert?»
    «Er hat mich rausgeworfen.»
    Nadia schüttelte verständnislos den Kopf. «Und das hast du dir bieten lassen? An deiner Stelle hätte ich gesagt: Lieber Herr Schrag, ich bestehe nicht darauf, weiter für Sie zu arbeiten. Ich bekomme ab sofort dreitausend im Monat. Wenn Sie pünktlich zahlen, werden Sie feststellen, wie verschwiegen ich sein kann.»
    Susanne schwieg. Der Gedanke an Erpressung war ihr nie gekommen. Nadia betrachtete sie nachdenklich von der Seite. «Und wovon lebst du seitdem?»
    Sie war nahe daran, auch in diesem Punkt die Wahrheit zu gestehen. Aber dann wollte das «Ich bestehle meine Mutter» doch nicht über die Lippen. «Ich hatte Rücklagen», sagte sie.
    Nadia warf einen Blick zu den Baumwipfeln hinauf. Darüber war der Himmel immer noch von einem satten, tiefen Blau. «Gehen wir zurück», schlug sie vor. Über das, was sie für Susanne tun könnte, hatte sie nicht gesprochen.
     
    Nadia bot an, sie heimzufahren. Susanne dirigierte sie stattdessen zu einem Kino unter dem Vorwand, in die Spätvorstellung zu wollen. Es wäre zu peinlich gewesen, in der Kettlerstraße fragen zu müssen: «Möchtest du noch mit hinaufkommen?»
    Vor dem Kino stieg sie aus und sagte mit von Enttäuschung belegter Stimme: «Es war ein netter Nachmittag.»
    Nadia hing über den Beifahrersitz gebeugt, um zu ihr ins Freie schauen zu können. «Ja, fand ich auch.» Dass sie ihn unbedingt wiederholen müssten, sagte sie nicht. Kein «Auf Wiedersehen», kein «Bis bald», nur ein «Tschüs dann».
    Susanne warf die Autotür zu. Der Motor heulte auf, der weiße Flitzer verschwand nach dem zweiten Überholmanöver aus ihrem Blickfeld, als könne Nadia nicht schnell genug Abstand zwischen sich und ihr ärmliches Ebenbild bringen. Plötzlich schämte sie sich für die Offenheit, mit der sie erzählt, für den Heißhunger, mit dem sie die Obsttorte verzehrt hatte, schämte sich entsetzlich für den gesamten Nachmittag und die verrückten Hoffnungen.
    Für den Heimweg ließ sie sich viel Zeit. Erst nach Mitternacht erreichte sie das schäbige Mietshaus, dem sie so gerne den Rücken gekehrt hätte. Die Haustür war wie üblich nur angelehnt. Aus Hellers Wohnung drang erbärmliches Stöhnen, begleitet vom Schnalzen einer Peitsche und rauem Männerlachen. Im Vorbeigehen spürte sie ein Frösteln. Sie beeilte sich, die letzten Stufen zu nehmen, verschloss ihre Wohnungstür, ging unter die Dusche, putzte minutenlang die Zähne, legte sich ins Bett und fragte sich, ob Nadia inzwischen ebenfalls daheim war und wie dieses Daheim beschaffen sein mochte.
    Ohne zu schlafen, träumte sie sich in eine schneeweiße Villa an irgendeiner Küste. Das war aber nur ihr Ferienhaus, vor dem eine Segelyacht ankerte. Eine Weile lag sie an Deck in der Sonne und ließ sich von dem blonden Mann einölen, dann sprang sie ins Meer, um sich zu erfrischen. Dass sie nicht schwimmen konnte, spielte in diesem Traum keine Rolle.
    Als sie endlich einschlief, träumte sie von ihrem Vater. Sie saßen gemütlich am Kaffeetisch, unterhielten sich. Mitten in einem Satz fasste er sich an die Brust und bekam diesen ratlos erstaunten Ausdruck in die Augen. Dann fiel er vornüber undwar tot, einfach tot mit nur siebenundfünfzig Jahren. Und sie schrie und schrie, konnte gar nicht aufhören.
    Mit einem Schlag war sie wieder hellwach, hörte den alten Kühlschrank
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