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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins
Autoren: Markus Preiter
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eine Brücke zum Erleben, wie es sich in psychopathologischen Phänomenen komprimiert. Wenn wir zu dieser Selbstbeschäftigung bereit sind, können wir uns gemeinsam fruchtbar immer tiefer in das Labyrinth der Pathologieerkenntnis und der Selbsterkenntnis vorwagen.
    Um dies möglichst gefahrlos und mit der erforderlichen Nüchternheit eines professionellen Höhlenforschers tun zu können, werden wir uns allerdings mit einem verloren gegangenen Hilfsmittel ausrüsten müssen, das uns immer Orientierung geben kann und das, wie ich eingestehen muss, von der aktuellen Mainstream-Psychiatrie in keiner Weise genutzt wird. Wir werden einen Orientierungskompass einsetzen, mit dessen Hilfe wir ruhigen Schrittes in das Labyrinth eintreten und mit dem wir uns beharrlich weiter hineinwagen können. Dieser Kompass wird die Geschichte des Menschen sein: die Geschichte des Menschen, nicht nur bezogen auf seine Entwicklung als einzelnes und einmaliges Individuum, wie es in der Psychiatrie
üblich ist. Wir werden vor allem seine andere Geschichte, die von der Psychiatrie fast durchgehend unbeachtet bleibt, betrachten. Gemeint ist die von uns allen geteilte evolutionäre Geschichte unseres Seins. Alle Menschen, ob gesund oder krank, teilen einen uralten, viele Millionen Jahre umfassenden evolutionären Entwicklungsprozess, der das Potential aufgeschichtet hat, uns zu dem zu machen, was wir heute sind und sein können.
    Evolutionäres Denken, bezogen auf die Psychopathologie des Menschen, spielt in der aktuellen Psychiatrie keinerlei nennenswerte Rolle. Dies ist umso erstaunlicher, da der Mensch doch zweifelsfrei das Produkt einer evolutionären Entwicklung ist. Bezogen auf alle seine Organe wird niemand abstreiten können, dass ihre Funktionsweise durch einen evolutionären Prozess entstanden ist. Nur dem Gehirn, welches, wie niemand anzweifeln wird, der Ort unseres Denkens und Fühlens ist, wird diese evolutionäre Bedeutung nicht im gleichen Maße zugebilligt. Wir glauben unabhängig geworden zu sein von unserem evolutionären Erbe, da wir unsere Kulturfähigkeit in einem langen kulturellen Prozess als Komplementärwahrheit zu unserer biologischen Evolution entworfen haben. Zwar ist so gut wie jedem klar, dass Charles Darwin die Evolutionstheorie begründet hat und der Mensch aus einer evolutionären Linie hervorgegangen ist, die eine gemeinsame Wurzel mit den heute lebenden Menschenaffen besitzt. Aber haben wir diesen Gedanken wirklich in der ihm zukommenden Tiefe konsequent verinnerlicht? Halten wir uns nicht doch weiterhin für etwas Besonderes, etwas auf dieser Erde Einzigartiges, zu dem die Entwicklung des Lebens fast zwangsläufig hingestrebt ist? Haben wir nicht mit unserer Kulturfähigkeit eine scharfe Trennlinie errichtet zwischen uns und den anderen Lebewesen dieses Planeten?
    Letztlich bleiben wir mit solchen weitverbreiteten Ansichten trotz aller wissenschaftlichen Aufklärung in einer christlichen Kulturgrammatik hängen, die dem Menschen nach der christlichen Sonder schöpfung weiterhin eine einzigartige Sonder stellung zubilligt. Kann ich nicht mehr das Zentralgeschehen einer göttlichen Schöpfung darstellen, so möchte ich als Entschädigung doch mindestens die
Krone der Evolution sein, die sich selbst kulturelle Flügel verleiht, mit denen ich mich aufschwinge, fort von den Niederungen biologisch evolutionärer Verwurzelung. Dass diese Flügel der Kulturfähigkeit ebenfalls das Ergebnis eines evolutionären Prozesses sind, unterschlagen wir nur allzu gerne und gleichen damit einem Piloten, der vergisst, dass er nur fliegen kann, weil Ingenieure und Techniker ihm ein Flugzeug gebaut haben.
    Ein sehr gut nachvollziehbarer Grund für die hartnäckige Negierung evolutionären Denkens in der Psychiatrie liegt allerdings in der unsäglichen sozialdarwinistischen Vulgarisierung biologischen Denkens, beginnend in den 1880er-Jahren, an der sich selbst führende Psychiater beteiligten, und in der katastrophalen Realisation pseudowissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Nationalsozialisten in ihrer »Rassenhygiene« und Mord-»Euthanasie« an psychisch Kranken. Dies hat als verständliche Gegenbewegung die nachfolgenden, klinisch tätigen Behandlergenerationen äußerst misstrauisch bis feindselig gegenüber evolutionären Gedanken innerhalb des eigenen Fachgebietes werden lassen. Man ging medizinisch-wissenschaftlich kollektiv auf großen Abstand gegenüber der Evolutionstheorie. Die Individualgeschichte rückte somit ganz
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