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Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes
Autoren: Paul Hoffman
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anderslautende Meldungen von Silbury Hill ein, von wo der Zusammenbruch der Front eindeutig zu beobachten war. Doch selbst dort erkannten nur die Jungen und IdrisPukke das ganze Ausmaß der sich anbahnenden Katastrophe. Die anderen Beobachter konnten sich nicht dazu entschließen, den Rückzug der Materazzi zu empfehlen. Die Vorstellung war undenkbar, und wie leicht konnte man sich täuschen. Sie schrieben alarmierende Berichte, tönten sie aber mit vielen Wenn und Aber ab. General Narcisse erhielt von der Front Anforderungen weiterer Truppen, um den Sieg hier und jetzt zu erzwingen, doch ebenso die düsteren Berichte der Beobachter von Silbury Hill, gespickt mit Formulierungen, die zur Vorsicht mahnten und die Niederlage noch nicht als ausgemacht ansahen. Wider besseres Wissen hatte Narcisse das Gros seiner Truppen in einen einzigen Angriff gegen einen Feind geworfen, der durch Krankheit geschwächt und schlecht ausgerüstet schien und gegen die größte Armee der Welt antrat, eine Armee, die seit zwanzig Jahren unbesiegt war. Eine Niederlage war ganz undenkbar. Allen alarmierenden Nachrichten von Silbury Hill zum Trotz gab der General den nachfolgenden Truppen den Befehl, zum Angriff überzugehen.
    Als die Jungen und IdrisPukke die zweite Angriffswelle sich entfalten sahen, entlud sich ihr Erstaunen und ihre Wut in einem lauten Aufschrei.
    »Was ist denn los?«, fragte Arbell ganz entgeistert Cale. Der rang nur die Hände und stöhnte.
    »Siehst du denn nicht? Die Schlacht ist schon so gut wie verloren. Diese Männer gehen ihrem Tod entgegen, und wer soll jetzt Memphis verteidigen, wenn ihre Leichen erst einmal auf dem Feld dort unten liegen?«
    »Du musst dich täuschen. Sag mir, dass es nicht stimmt. So schlimm kann es einfach nicht sein.«
    »Schau doch selbst«, sagte er und zeigte mit der Hand auf das Schlachtfeld. Schon tummelten sich Tausende Bogenschützen der Erlöser auf den Flanken und sogar im Rücken der Materazzi-Armee. Sie schlugen mit Stangen und Hämmern auf sie ein und brachten sie zu Fall, und jeder fallende Materazzi-Soldat riss drei oder vier mit sich in den Sturz. »Wir müssen los«, sagte Cale. »Roland«, rief er Arbells Reitknecht zu, »bring ihr Pferd, aber rasch!« Und in schmerzlichem Ton sagte er zu sich selbst: »Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde.«
    Er nickte Vague Henri und Kleist zu, die sich sogleich auf den Weg zu den Zelten machten. Schon unterwegs kam ihnen atemlos eine hinkende Gestalt entgegen. »Wartet!«, rief der Mann. Es war Koolhaus, mit gerötetem Gesicht und ganz außer sich.
    »Mademoiselle, es geht um Euren Bruder. Er ist mir entwischt, als wir bei der Nachhut der Kavallerie zugeschaut haben. Ich dachte, wir hätten uns im Gewimmel verloren, doch als ich zurück zu seinem Zelt ging, war die Rüstung, die ihm sein Vater zu seinem Geburtstag geschenkt hatte, nicht mehr da.« Er machte eine Pause und sagte dann leise: »Ich fürchte, er ist dort unten im Kampfgetümmel.«
    »Wie konntet Ihr nur so fahrlässig sein?«, schrie Arbell Koolhaus an. Doch schon im nächsten Augenblick wandte sie sich an Cale: »Bitte, such ihn und bring ihn hierher.«
    Cale war so überrascht, dass er gar nichts sagte. Nicht so Kleist.
    »Wenn Ihr beide tot sehen wollt, dann ist das der beste Weg.« Kleist forderte sie mit einer Handbewegung auf, einen Blick auf die Schlacht zu werfen. »In wenigen Minuten werden sich da unten fünfundzwanzigtausend Männer auf einen Kartoffelacker drängeln. In den nächsten zwei Stunden bekommen wir ein Gemetzel zu sehen, und Ihr wollt ihn da hineinschicken? Das heißt doch die Stecknadel im Heuhaufen suchen und obendrein brennt der noch.«
    Doch sie schien gar nicht zuzuhören, sie blickte nur Cale verzweifelt und Hilfe suchend an.
    »Bitte, hilf ihm.«
    »Kleist hat Recht«, sagte Vague Henri. »Ganz gleich, was Simon passiert, wir können ihm nicht helfen.« Wieder hörte sie nicht zu, sondern schaute Cale weiterhin in die Augen. Schließlich senkte sie langsam den Blick.
    »Ich verstehe«, sagte sie.
    Genau mit diesen Worten traf sie Cale, als hätte sie ihm einen Stich ins Herz versetzt. In seinen Ohren klang es, als hätte sie allen Glauben verloren, und das ertrug er nicht. In ihren Augen war er so etwas wie ein Gott geworden, und auf ihre Anbetung konnte er nicht verzichten. Die ganze Zeit über hatte Riba den Mund gehalten, weil sie hoffte, dass die anderen Arbell schon zur Vernunft bringen würden. Sie
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