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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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die Fähigkeit, meine Lage richtig zu beurteilen. Die Heilige, die in diesem Augenblicke über uns wacht, wird meine Zurückhaltung gutheißen und es billigen, daß ich nur bitte, Sie möchten zwischen Ihren Gefühlen und mir Ihre Unparteilichkeit bewahren. Ich liebe Sie zu sehr, trotz der Abneigung, die Sie an den Tag legen, um dem Comte einen Plan nahezulegen, auf den er mit Freuden einginge. Sie sollen frei sein. Später mögen Sie daran denken, daß Sie niemanden auf Erden besser kennen als mich, daß kein Mann Ihnen ein treuer ergebenes Herz entgegenbringen wird ...« Bis jetzt hatte mir Madeleine mit gesenktem Blick zugehört, nun unterbrach sie mich. »Monsieur«, sagte sie mit einer Stimme, die vor Erregung bebte, »auch ich kenne alle Ihre Gedanken, aber mein Gefühl Ihnen gegenüber wird sich nie ändern, und ich möchte mich lieber in die Indre werfen als mich an Sie binden. Ich will nicht von mir sprechen, aber wenn der Gatte meiner Mutter Ihnen noch etwas gilt, so bitte ich Sie in ihrem Namen, nicht mehr nach Clochegourde zurückzukehren, solange ich hier bin. Ihr bloßer Anblick verursacht mir eine Erregung, die ich nicht zu erklären weiß und die ich nie verwinden werde.«
    Sie grüßte mit einer würdevollen Bewegung und ging nach dem Schlosse zurück, ohne sich umzudrehen, gefühllos, wie es ihre Mütter an einem einzigen Tage gewesen war, doch unerbittlich. Der Scharfblick dieses jungen Mädchens hatte, wenn auch spät, alles erraten, und vielleicht war ihr Haß gegen den Menschen, den sie für so verderblich hielt, noch gesteigert worden durch den Ärger über ihre unschuldige Mitschuld. Hier war alles Abgrund. Madeleine haßte mich, ohne sich darüber Rechenschaft ablegen zu wollen, ob ich die Ursache oder das Opfer all dieses Unglücks sei; sie hatte uns vielleicht beide gleich stark gehaßt, ihre Mutter und mich, wenn wir glücklich gewesen wären. So war alles zerstört. Ich allein sollte bis ins einzelne das Leben dieser großen unverstandenen Frau kennen, ich allein war in das Geheimnis ihrer Gefühle eingeweiht, ich allein hatte ihre Gedanken nach allen Richtungen durchstreift. Weder ihre Mutter noch ihr Vater, noch ihr Mann, noch ihre Kinder hatten sie gekannt. Seltsam! Ich durchwühle diesen Aschenhaufen und finde Freude daran, alles vor Ihnen auszubreiten..Wir können alle darin etwas von unsern liebsten Schicksalen wiederfinden. Wie viele Familien haben ihre Henriette! Wieviel edle Wesen verlassen diese Erde, ohne einen verständnisvollen Geschichtsschreiber gefunden zu haben, der ihr Herz ergründet und dessen Tiefe und Weite ermessen hat! Dies ist das menschliche Leben in-seiner ungeschminkten Wahrheit: oft kennen die Mütter ihre Kinder nicht mehr, als die Kinder sie kennen; so steht es auch mit Eheleuten, Liebenden und Brüdern. Konnte ich ahnen, daß ich mich eines Tages vor dem Sarge meines Vaters mit Charles de Vandenesse streiten würde, mit meinem Bruder, zu dessen Glück ich soviel beigetragen habe? Ach Gott! Wieviel Lehren in der einfachsten Geschichte! ... Als Madeleine durch die Eingangstür verschwunden war, kehrte ich mit gebrochenem Herzen zu meinem Gastgeber zurück, nahm Abschied von ihm und brach nach Paris auf. Ich folgte dem rechten Ufer der Indre, auf dem ich zum erstenmal in dieses Tal gekommen war. Traurig durchschritt ich das hübsche Dorf Pont-de-Ruan. Und doch war ich reich; die politische Welt lag mir offen und lächelte mich an. Ich war nicht mehr der müde Fußgänger von 1814. Damals war mein Herz voller Wünsche, heute weinte ich; damals hatte ich noch mein Leben vor mir, jetzt fühlte ich, wie verödet es sei. Ich war noch sehr jung, erst neunundzwanzig Jahre alt, und mein Herz war schon welk. Wenige Jahre hatten genügt, diese Landschaft ihrer strahlenden Pracht zu berauben und mich lebensüberdrüssig zu machen. Sie können sich meine Erschütterung vorstellen, als ich mich umwandte und Madeleine auf der Terrasse stehen sah ... Von Traurigkeit überwältigt, dachte ich nicht mehr an das Ziel meiner Reise. Lady Dudley war meinem Herzen sehr fern; ich trat in ihren Hof ein, ohne es nur zu bemerken. Die Dummheit war begangen, ich mußte die Folgen tragen. Ich genoß bei ihr die Freiheiten eines Ehemannes. Mißmutig stieg ich die Treppe hinauf in Gedanken an die Unannehmlichkeiten eines endgültigen Bruches. Wenn Sie Wesen und Art von Lady Dudley richtig erfaßt haben, so können Sie sich mein Mißbehagen vorstellen, als mich ihr Hausmeister im Reiseanzug
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