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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Erde gehaftet haben, wenn mein Mund Ihren Worten und Freundlichkeiten gegenüber stumm bleibt, oh, dann fragen Sie mich nicht mehr: ›Woran denken Sie?‹ –
    Liebe Natalie, ich habe eine Zeitlang aufgehört zu schreiben, die Erinnerungen hatten mich zu tief bewegt. Nun schulde ich Ihnen noch den Bericht über die Ereignisse, die der Katastrophe folgten und die weniger Worte bedürfen. Wenn ein Leben ganz Tat und Bewegung ist, läßt sich wenig darüber sagen, aber sobald eine Lebensgeschichte in den höchsten Regionen der Seele spielt, wird sie umständlich. Henriettes Brief zeigte mir einen Hoffnungsschimmer. Im großen Schiffbruch meines Lebens entdeckte ich eine Insel, wo ich landen konnte. In Clochegourde bei Madeleine leben, ihr mein ganzes Leben weihen, das war ein Los, das meinem erregten Herzen zusagte. Aber ich mußte erst Madeleines Gedanken kennen ... Ich ging nach Clochegourde, um mich vom Comte zu verabschieden; ich traf ihn auf der Terrasse. Wir gingen lange auf und ab. Erst sprach er von der Comtesse wie ein Mann, der den ganzen Umfang seines Verlustes und den Schaden, den er für sein Innenleben bedeutet, ermißt. Aber nach diesem ersten Schmerzensausbruch zeigte er sich um die Zukunft bekümmerter als um die Gegenwart. Er fürchtete seine Tochter, die nicht die Sanftmut ihrer Mutter besaß. Das feste Wesen Madleleines, in der sich etwas Herrisches mit der weichen Anmut ihrer Mutter paarte, erschreckte den Greis, der an Henriettes Zärtlichkeit gewöhnt war und nun in seiner Tochter einen Willen ahnte, der nicht zu beugen wäre. Aber was ihn über seinen unersetzlichen Verlust tröstete, war die Gewißheit, daß er seiner Frau bald folgen werde: die Erregungen und Betrübnisse der letzten Tage hatten seinen Gesundheitszustand verschlimmert und alte Leiden heraufbeschworen. Der unvermeidliche Kampf zwischen seiner väterlichen Autorität und der seiner Tochter, die nun die Herrin im Hause wurde, mußte seine letzten Lebenstage verbittern. Wo er mit seiner Frau verhandeln konnte, mußte er seinem Kinde bedingungslos nachgeben. Übrigens würde sein Sohn ihn verlassen, seine Tochter müsse heiraten; wen würde er wohl zum Schwiegersohn bekommen? Obwohl er von seinem baldigen Tode sprach, fühlte er sich verwaist und auf lange Zeit hinaus aller Liebe beraubt.
    Während er so nur von sich sprach und meine Freundschaft um seiner Frau willen anflehte, zeichnete sich vor meinen Blicken mit voller Klarheit die große Gestalt des Emigranten, einer der imposantesten, erhabensten Typen unserer Zeit. Er war scheinbar schwächlich, aber zäh wegen seiner mäßigen Lebensweise und seiner ländlichen Beschäftigungen. Er lebt heute noch.
    Obwohl Madeleine uns auf der Terrasse auf und ab gehen sah, kam sie nicht herunter. Sie trat mehrmals auf die Freitreppe hinaus und kehrte ins Haus zurück, um mir damit ihre Geringschätzung zu beweisen. Ich ergriff die Gelegenheit, als sie heraustrat, und bat den Comte, mich zum Schloß zu begleiten, ich hätte mit Madeleine zu sprechen ... Ich schützte einen Letzten Willen vor, den mir die Comtesse anvertraut habe; das war für mich das einzige Mittel, sie zu sehen. Der Comte rief sie und ließ uns allein auf der Terrasse. »Liebe Madeleine«, sagte ich, »wenn irgendwo, so muß ich hier mit Ihnen sprechen, hier, wo Ihre Mutter mich anhörte, als sie sich über mich und mehr noch über ihr trauriges Geschick beklagte. Ich kenne Ihre Gedanken; aber verurteilen Sie mich nicht, ohne den Sachverhalt zu kennen? Mein Leben und mein Glück sind mit diesem Ort verknüpft, das wissen Sie, und Sie verbannen mich von hier durch Ihre abweisende Kälte. Sie vergessen, daß geschwisterliche Liebe uns verband und daß ein gemeinsamer Scherz dies Band noch enger geknüpft hat. Liebe Madeleine, ich ließe auf der Stelle mein Leben für Sie, ohne Hoffnung auf Lohn, ohne daß Sie es wüßten: so lieb sind uns die Kinder derer, die uns im Leben gehegt haben! Sie wissen nichts von dem Plan, der Ihrer göttlichen Mutter seit sieben Jahren am Herzen lag und der wohl eine Wandlung in Ihrem Empfinden herbeiführen dürfte. Aber dabei will ich mich nicht aufhalten. Das einzige, worum ich Sie bitte, ist, mir nicht das Recht zu nehmen, die Luft dieser Terrasse zu atmen; ich bitte Sie, warten zu dürfen, bis die Zeit Ihre Lebensanschauung geändert hat. Vorläufig werde ich mich wohl hüten, ihr zu widersprechen. Ich weiß einen Schmerz zu achten, der Sie irreleitet, denn derselbe Schmerz nimmt auch mir
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