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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau
Autoren: Alice Munro
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seiner Mutter die Kartoffeln. Sein fünfjähriger Bruder saß schon am Tisch, hämmerte immer wieder mit Messer und Gabel auf den Tisch und schrie: »Wo bleibt die Bedienung. Wo bleibt die Bedienung.«
    Das hatte er vom Vater, der das im Scherz sagte.
    Bud ging am Stuhl seines Bruders vorbei und sagte leise: »Sieh mal. Sie tut wieder Klümpchen in den Kartoffelbrei.«
    Er hatte seinen Bruder überzeugt, dass Klümpchen etwas waren, was man hinzutat, wie Rosinen an den Reispudding, aus einem Vorrat im Küchenschrank.
    Sein Bruder hörte auf zu schreien und fing an zu jammern.
    »Ich esse keinen, wenn sie Klümpchen reintut. Mama, ich esse keinen, wenn sie Klümpchen reintut.«
    »Ach, hab dich nicht so«, sagte Buds Mutter. Sie briet gerade Apfelscheiben und Zwiebelringe mit den Schweinekoteletts. »Hör auf zu greinen wie ein Baby.«
    »Bud hat ihn angestiftet«, sagte die ältere Schwester. »Bud hat ihm gesagt, sie täte Klümpchen rein. Jedes Mal erzählt Bud ihm so was, und er glaubt den Quatsch.«
    »Bud sollte man eins aufs Maul hauen«, sagte Doris, die Schwester, die die Kartoffeln stampfte. Sie sagte solche Sachen nicht immer nur so dahin – sie hatte Bud einmal die ganze Wange aufgekratzt.
    Bud ging zur Anrichte, wo ein Rhabarberkuchen abkühlte. Er nahm eine Gabel und fing an, vorsichtig, heimlich daran zu bohren, ließ den köstlichen Dampf heraus, einen zarten Zimtgeruch. Er versuchte, eins der kleinen Luftlöcher in der Kruste zu öffnen, damit er von der Füllung kosten konnte. Sein Bruder sah, was er tat, hatte aber zu viel Angst, um etwas zu sagen. Sein Bruder wurde verhätschelt und von seinen Schwestern immerzu verteidigt – Bud war die einzige Person im Haus, vor der er Respekt hatte.
    »Wo bleibt die Bedienung«, wiederholte er, aber jetzt leise und nachdenklich.
    Doris kam zur Anrichte, um die Schüssel für den Kartoffelbrei zu holen. Bud machte eine unvorsichtige Bewegung, und ein Teil der Kruste stürzte ein.
    »Jetzt macht er auch noch den Kuchen kaputt«, sagte Doris. »Mama – er macht deinen Kuchen kaputt.«
    »Halt deinen gottverdammten Rand«, sagte Bud.
    »Lass den Kuchen in Ruhe«, sagte Buds Mutter mit geübter, fast abgeklärter Strenge. »Hör auf zu fluchen. Hör auf, Unsinn zu erzählen. Werd erwachsen.«
     
    Jimmy Box setzte sich mit vielen an den Tisch. Er und sein Vater und seine Mutter und seine vier und sechs Jahre alten Schwestern lebten in Großmutters Haus, mit seiner Großmutter und seiner Großtante Mary und seinem unverheirateten Onkel. Sein Vater hatte eine Fahrradwerkstatt im Schuppen auf dem Hof, und seine Mutter arbeitete in Honeker’s Warenhaus.
    Jimmys Vater war verkrüppelt – das Ergebnis von Kinderlähmung mit zweiundzwanzig Jahren. Er ging stark gekrümmt und benutzte einen Krückstock. Das war nicht so zu merken, wenn er in seinem Laden arbeitete, weil man sich bei dieser Arbeit ohnehin oft vorbeugen musste. Wenn er auf der Straße ging, sah er sehr merkwürdig aus, aber niemand verhöhnte ihn oder ahmte ihn nach. Er war früher ein glänzender Hockey- und Baseballspieler gewesen, und etwas vom athletischen Heldentum der Vergangenheit umgab ihn immer noch, änderte den Blickwinkel auf seinen gegenwärtigen Zustand, sodass dieser als eine Phase gesehen werden konnte (wenn auch eine endgültige). Er trug zu dieser Wahrnehmung bei, indem er Witze riss und einen optimistischen Ton anschlug und die Schmerzen verleugnete, die sich in seinen eingesunkenen Augen abzeichneten und ihn viele Nächte lang wach hielten. Und anders als der Vater von Cece Ferns zog er keine anderen Saiten auf, sobald er sein Haus betrat.
    Aber es war ja auch nicht sein Haus. Seine Frau hatte sich zwar vor seiner Erkrankung mit ihm verlobt, ihn aber erst hinterher geheiratet, und da schien es das Naheliegendste, zu ihrer Mutter zu ziehen, damit die Mutter sich um die Kinder kümmern konnte, die vielleicht kamen, während die Frau weiter zur Arbeit ging. Auch der Mutter der Frau schien es das Naheliegendste, eine weitere Familie auf sich zu nehmen – ebenso wie es naheliegend schien, dass ihre Schwester Mary zu ihnen ins Haus zog, als ihre Augen immer schlechter wurden, und dass ihr Sohn Fred, der außergewöhnlich schüchtern war, weiterhin zu Hause wohnen blieb, bis er etwas fand, das ihm besser gefiel. Es war dies eine Familie, die Bürden der einen oder anderen Art sogar noch klagloser hinnahm als das Wetter. Niemand in diesem Haus hätte die körperliche Verfassung von Jimmys
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