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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau
Autoren: Alice Munro
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besonders Ausschau hielten – eine lange, niedrige, hartnäckige Schneewehe, grau wie Stein.
    Noch nicht vom Boden verschwunden.
    Also würden sie ins Wasser springen und die Kälte wie Eisdolche spüren. Eisdolche, die hinter ihren Augen aufschossen und von innen auf ihre Schädeldecken einstachen. Dann würden sie ein paarmal Arme und Beine bewegen und sich hinaushangeln, am ganzen Körper zitternd und mit klappernden Zähnen; sie würden die tauben Gliedmaßen in die Kleider stecken und die Schmerzen spüren, wenn das aufgeschreckte Blut den Körper zurückeroberte, und die Erleichterung, ihre Prahlerei wahr gemacht zu haben.
    Die Reifenspuren, die ihnen nicht auffielen, führten geradewegs durch den Graben – in dem jetzt nichts wuchs, nur das platte, tote, strohfarbene Gras des Vorjahres war noch da. Durch den Graben und in den Fluss, ohne den Versuch einer Umkehr. Die Jungen stiefelten darüber hinweg. Aber inzwischen waren sie nah genug am Wasser, um etwas zu entdecken, was wesentlich fesselnder war als Reifenspuren.
    An einer Stelle schimmerte das Wasser hellblau, und das war keine Spiegelung des Himmels. Es war ein komplettes Auto, es lag schräg im Mühlteich, die Vorderräder und die Motorhaube staken im schlammigen Grund, der Buckel der Kofferhaube durchbrach fast die Wasseroberfläche. Hellblau war zu jener Zeit eine ungewöhnliche Farbe für ein Auto, und seine bauchige Form war ebenfalls ungewöhnlich. Sie erkannten es sofort. Das kleine englische Auto, der Austin, bestimmt der Einzige im ganzen Land. Er gehörte Mr. Willens, dem Optiker. Er sah wie eine Witzfigur aus, wenn er darin fuhr, denn er war ein kleiner, aber dicker Mann, mit breiten Schultern und großem Kopf. Er wirkte immer in sein kleines Auto hineingezwängt wie in einen platzenden Anzug.
    Das Auto besaß ein Schiebedach, das Mr. Willens bei warmem Wetter öffnete. Es stand jetzt offen. Was sich im Innern befand, konnten sie nur schwer erkennen. Die Farbe des Autos machte seine Form gut sichtbar, aber das trübe Wasser verbarg alles, was weniger hell war. Die Jungen hockten sich ans Ufer, dann legten sie sich auf den Bauch, reckten wie Schildkröten den Kopf vor und spähten ins Wasser. Da war etwas Dunkles, Pelziges, etwas wie ein großer Tierschwanz, es ragte aus der Öffnung im Dach und bewegte sich träge im Wasser. Nicht lange, und es wurde als Arm ausgemacht, bedeckt vom Ärmel einer dunklen Jacke aus schwerem, haarigem Stoff. Wie es aussah, war in dem Auto der Leichnam eines Mannes – es musste der von Mr. Willens sein – in eine merkwürdige Stellung geraten. Die Kraft des Wassers – denn selbst im Mühlteich ging zu dieser Jahreszeit eine ziemlich starke Strömung – musste ihn irgendwie vom Sitz gehoben und umhergestoßen haben, sodass er oben ans Autodach kam und ein Arm hinausgeriet. Sein Kopf musste heruntergedrückt worden sein, gegen das Fenster der Fahrertür. Ein Vorderrad steckte tiefer im Grund als das andere, das Auto lag also auch seitlich schräg im Wasser. Und das hieß, eigentlich musste das Fenster der Fahrertür offen stehen und der Kopf von Mr. Willens herausragen. Aber es gelang ihnen nicht, den klar zu erkennen. Sie konnten sich nur sein Gesicht vorstellen, wie sie es kannten – ein großes, breites Gesicht, das oft ein dramatisches Stirnrunzeln zur Schau trug, aber nie ernsthaft einschüchterte. Sein dünnes, krauses Haar war rötlich oder messingfarben und quer über den Schädel gekämmt. Seine Augenbrauen waren dunkler als das Haupthaar, dick und struppig wie Raupen, die über den Augen klebten. Dieses Gesicht kam ihnen ohnehin grotesk vor, wie viele Gesichter von Erwachsenen, und sie hatten keine Angst, es vom Wasser aufgequollen zu sehen. Aber alles, was sie erspähen konnten, war dieser Arm mit der bleichen Hand. Die Hand sahen sie ganz deutlich, sobald sie sich daran gewöhnt hatten, ins Wasser zu schauen. Sie schwebte zitternd und unentschlossen, wie eine Feder, obwohl sie aussah wie aus Teig. Und ebenso normal, sobald man sich daran gewöhnt hatte, dass sie überhaupt dort war. Die Fingernägel waren alle wie blanke kleine Gesichter, mit ihrer verständigen, alltäglichen Begrüßungsmiene, ihrer vernünftigen Missachtung der gegenwärtigen Umstände.
    »Mannometer«, sagten die Jungen. Mit zunehmendem Nachdruck und in einem Tonfall wachsender Hochachtung, sogar der Dankbarkeit.
»Mannometer.«
     
    Es war ihr erster Ausflug in diesem Jahr. Sie waren auf der Brücke über den Peregrine
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