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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau
Autoren: Alice Munro
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aber links liegen gelassen. Eigentlich gingen sie wie Erwachsene, in ziemlich gleichmäßigem Tempo und auf dem vernünftigsten Weg, mit der Bürde, wohin sie nun gehen und was sie als Nächstes tun mussten. Sie hatten etwas vor sich, hatten ein Bild vor Augen, das sich zwischen sie und die Welt schob, etwas, was die meisten Erwachsenen zu haben schienen. Der Mühlteich, das Auto, der Arm, die Hand. Sie hatten die Vorstellung, sobald sie eine bestimmte Stelle erreichten, würden sie anfangen zu rufen. Sie würden unter lautem Geschrei in die Stadt ziehen und mit ihrer Neuigkeit fuchteln, und alle würden mucksmäuschenstill sein und zuhören.
    Sie überquerten die Brücke in derselben Weise wie immer, auf dem Sims. Aber sie hatten keinerlei Gefühl von Wagnis oder Mut oder Kaltblütigkeit. Sie hätten ebenso gut den Gehweg nehmen können.
    Statt der scharfen Kurve der Straße zu folgen, von der aus man sowohl den Hafen als auch den Marktplatz erreichen konnte, kletterten sie das Ufer hoch zu einem Pfad, der bei den Eisenbahnschuppen herauskam. Die Uhr spielte das Viertel-nach-Geläut. Viertel nach zwölf.
     
    Das war die Zeit, zu der die Leute zum Mittagessen nach Hause gingen. Die Büroangestellten hatten Dienstschluss. Aber die, die in Läden arbeiteten, hatten nur ihre übliche Freistunde – am Samstag blieben die Läden bis zehn oder elf Uhr abends geöffnet.
    Die meisten Leute gingen zu einer warmen, sättigenden Mahlzeit heim. Schweinekoteletts oder Würstchen oder gekochtes Rindfleisch oder Hackfleischauflauf. Mit Sicherheit Kartoffeln, gestampft oder gebraten; eingelagerte Wurzelgemüse oder Kohl oder Rahmzwiebeln. (Ein paar Hausfrauen, reicher oder verschwenderischer, hatten vielleicht eine Dose Erbsen oder Butterbohnen aufgemacht.) Brot, Muffins, eingewecktes Obst, Kuchen. Selbst diejenigen, die kein Zuhause hatten oder die aus irgendeinem Grunde nicht dorthin wollten, setzten sich zu einer ähnlichen Mahlzeit im Duke of Cumberland oder im Merchant’s Hotel an den Tisch oder nahmen für weniger Geld hinter den beschlagenen Scheiben von Shervill’s Dairy Bar Platz.
    Die meisten derer, die nach Hause gingen, waren Männer. Denn die Frauen waren bereits dort – waren die ganze Zeit über dort. Einige Frauen mittleren Alters jedoch, die aus Gründen, für die sie nichts konnten – tote Ehemänner oder kranke Ehemänner oder überhaupt keine Ehemänner –, in Läden oder Büros arbeiteten, waren mit den Müttern der Jungen befreundet und riefen ihnen jetzt Begrüßungen zu, sogar quer über die Straße (am schlimmsten war es für Bud Salter, den sie Buddy nannten), in einer ganz bestimmten scherzhaften oder munteren Art, die all das wachrief, was sie über Familiengeschichten oder die weit zurückliegende frühe Kindheit wussten.
    Männer machten sich nicht die Umstände, kleine Jungen mit Namen zu begrüßen, selbst wenn sie sie gut kannten. Sie nannten sie »Jungs« oder »Burschen« oder gelegentlich »Herren«.
    »Guten Tag, die Herren.«
    »Geht’s ab nach Hause, Jungs?«
    »Na, was habt ihr Burschen heute wieder ausgefressen?«
    All diese Begrüßungen hatten ein gewisses Maß an Humorigkeit, aber es gab Unterschiede. Die Männer, die »Burschen« sagten, waren wohlgesonnener – oder wollten wohlgesonnener erscheinen – als die, die »Jungs« sagten. »Jungs« konnte Auftakt einer Standpauke sein, für nicht näher bezeichnete oder ganz bestimmte Vergehen. »Burschen« deutete an, dass der Sprecher selbst einmal jung gewesen war. »Herren« war reine Ironie und Herabsetzung, führte aber nicht zu Schelte, denn die Person, die das sagte, gab sich mit so etwas nicht ab.
    Bei der Erwiderung schauten die Jungen nicht höher als bis zu den Handtaschen der Frauen und den Adamsäpfeln der Männer. Sie sagten laut und deutlich »Hallo«, denn es konnte Ärger geben, wenn sie es nicht taten, und Fragen beantworteten sie mit »Ja, Sir« und »Nein, Sir« und »Nix Besondres«. Selbst an diesem Tag hatten solche Ansprachen für sie etwas Beängstigendes und Verwirrendes, und sie antworteten mit der üblichen Einsilbigkeit.
    An einer bestimmten Ecke mussten sie sich trennen. Cece Ferns, der es immer am eiligsten hatte, nach Hause zu kommen, scherte als Erster aus. Er sagte: »Also bis nach dem Essen.«
    Bud Salter sagte: »Ja. Dann müssen wir in die Stadt.«
    Das hieß, wie alle verstanden: »In die Stadt aufs Polizeirevier.« Ohne miteinander beraten zu müssen, hatten sie sich offenbar für eine neue
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