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Die Liebe des Wanderchirurgen

Die Liebe des Wanderchirurgen

Titel: Die Liebe des Wanderchirurgen
Autoren: Wolf Serno
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bringen. Nach dem ersten Wort ist alles einfacher.«
    »Ja«, sagte er, »ich schäme mich so.«
    »Das solltest du auch. In Grund und Boden schämen solltest du dich. Nina ist die prachtvollste Frau, die ich jemals kennengelernt habe. Wenn du jetzt nicht zu ihr gehst, werde ich es tun.«
    »Das wird nicht nötig sein.« Er erhob sich wie ein alter Mann und machte sich auf den Weg zurück. Bei der kleinen Kapelle, in der seine Ahnen in ihren Steinsärgen ruhten, war er versucht, hineinzugehen und sie um Rat zu fragen, doch er unterließ es. Er konnte die Stunde der Wahrheit nicht länger aufschieben, er musste sie hinter sich bringen.
    Nach kurzer Zeit kam das Schloss mit dem Vorplatz und der großen Freitreppe in Sicht, und auf der Freitreppe stand Nina. Sie stand allein auf der obersten Stufe, als hätte sie auf ihn gewartet.
    Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Er winkte ihr zu.
    Sie winkte zurück, zögernd, zaghaft. Er spürte den Ring in seiner Tasche, der noch immer wie ein glühendes Stück Kohle war, und beschloss, ihn ihr als Erstes zu geben, bevor er ihr seine Verfehlungen gestand.
    Er ging noch schneller, lief schon fast. Nina, Liebste!, wollte er rufen, doch die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er eilte die Stufen der Treppe empor und blieb atemlos vor ihr stehen. »Ich … ich muss dir etwas geben«, keuchte er.
    »Ja«, sagte sie ruhig, »ich dachte es mir.«
    Er griff in die Tasche und holte ihren Ring hervor. »Ich habe Schuld auf mich geladen, große Schuld.«
    Sie nahm den Ring. »Du musst mir alles sagen, hörst du? Und wenn du mir noch so weh tust! Ich will alles wissen, ich muss alles wissen, denn anders kann es mit uns nicht weitergehen.«
    »Liebste …«
    Ihre Lippen zuckten. »Wenn es überhaupt mit uns weitergeht.«
    »Liebste, ich …«
    Sie schluchzte auf und lief zurück ins Schloss.
    Tausend Worte, Gedanken und Erklärungen schossen ihm durch den Kopf, während er ihr mit schleppenden Schritten folgte. Wie würde sie reagieren, wenn sie von seinem Treuebruch erfuhr? Was würde sie sagen? Was würde sie tun?
    Er durfte nicht erwarten, dass sie für sein Verhalten Verständnis zeigte.
    Und doch …
    Ein kleiner Funke Hoffnung war da.
    Ein Funke Hoffnung, der Liebe hieß.

[home]
    Epilog
    M ehr als drei Monate dauerte es, bis Nina sich in der Lage fühlte, das zu verzeihen, was Vitus ihr noch am gleichen Tag gestanden hatte. Es war eine Zeit des Hoffens und Bangens für ihn, eine Zeit, in der er manchmal glaubte, es würde zwischen ihm und ihr niemals wieder so werden wie früher.
    Doch in der Vorweihnachtszeit des gleichen Jahres, als stimmungsvolle Lieder im Schloss erklangen, die Düfte von Kuchen und Mandelkäse durch die Zimmer zogen und draußen die ersten Schneeflocken auf die Felder fielen, begannen die Wunden, die er ihrem Herzen geschlagen hatte, allmählich zu verheilen.
    Er erkannte es daran, dass eines Abends sein Bett nicht mehr in dem kleinen, abgeteilten Raum stand, der ihm nach seinem Geständnis als Schlafgemach dienen musste. Das Bett war verschwunden, und während er sich noch darüber wunderte, hörte er Nina leise von nebenan rufen: »Wo bleibst du, Liebster, es ist spät!«
    Zum ersten Mal hatte ihre Stimme wieder wie früher geklungen: natürlich, freundlich und ohne Distanz, und eine unendliche Dankbarkeit durchströmte ihn, als er die wenigen Schritte zu ihr hinüberging.
    Nach dieser Nacht zog wieder Friede in Greenvale Castle ein, rechtzeitig zum Fest von Jesu Geburt, und jeder spürte das: Der Magister, der sich während der Wochen und Monate das Hirn zermartert hatte, wie er die beiden wieder versöhnen könne, der Zwerg, dem es trotz der Kochkünste seiner dicken Mrs.Melrose nachhaltig den Appetit verschlagen hatte, und auch Odo, Carlos und sogar die kleine Jean, die wieder unbeschwert lachen konnten, weil sie fühlten, dass nichts mehr zwischen ihren Eltern stand.
    Die Weihnachtstage verliefen voller Harmonie, nicht nur auf Greenvale Castle, sondern überall im Land, denn die tödliche Bedrohung durch die Armada war abgewendet worden. Von den hundertdreißig Schiffen, deren Besatzungen einst losgesegelt waren, die Britannische Insel zu erobern, kehrten bis zum Jahresende nur die Hälfte zurück. Philipp II ., der finstere Herrscher, schien angesichts der verheerenden Niederlage wenig beeindruckt. »Ich habe meine Armada zum Kampf gegen die Engländer ausgesandt, nicht gegen Naturgewalten«, war alles, was er sagte. Anschließend sorgte er
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