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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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Plätzchen, Rasierapparat, Bildzeitung und alte Fotos. Jetzt drehte Kurtacker sich um und sah sie an. Sein Gesicht war schief, unrasiert, und die Haare fielen ihm in die Augen. Wild und schwarzäugig blickte er sie an.
    Ich – ich bringe das Mittagessen.
    Kurtacker bedeckte die schiefe Hälfte seines Gesichtes, winkte ihr zu und kam herangerollt. Sein linker Arm lag schwach und muskellos auf seinen Knien, der andere Arm schob den Reifen. Herr Kurtacker war krumm, buckelig und finster.
    Lotta überlegte sich, schnell zu verschwinden, bevor Herr Kurtacker bemerkte, wie kalt sein Fisch inzwischen war. Und bevor die Schwestern bemerkten, dass sie verbotenerweise zu ihm hineingegangen war.
    Aber dann hielt sie irgendetwas zurück. Eine Art Spannung oder Faszination. Dem Ungeheuer so nahe zu sein. Was war denn so ungeheuerlich an ihm? Gut, er hatte schon die Fensterscheiben eingeschlagen. Gut, er hatte Ivy schon mal eine Flasche übergezogen. Gut, er hatte der letzten Stationshilfe den Arm ausgekugelt. Aber vielleicht geschah das ja nur aus einem momentanen Unwohlsein? Vielleicht konnte man Herrn Kurtacker helfen, sich wohler zu fühlen?
    Fehlt noch was? Salz oder so?
    Verwirrt blickte Kurtacker auf. Sagte dann eher verschüchtert: Nein, … nein … Gut so.
    Ich bin neu, sagte Lotta. Verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
    Kurtacker drehte sich mühsam um. Seine Stimme glitt wie Geröll über den Asphalt. – Ja. Ja. Er musterte sie verstohlen unter der Hand, die das schiefe Gesicht bedeckte. – Schön. Wunder … wunderbar. Bist ein schönes Mädchen.
    Lotta wagte sich immer mehr.
    Kann sein, dass der Fisch ein wenig kalt ist.
    Daraufhin zuckte er zusammen. Warum? Weil sie noch immer da war? Oder weil der Fisch kalt war? Weshalb hatte er gezuckt?
    Ein weiteres Grollen schien ihn zu packen. Seine nackte, linke Schulter schob sich hoch, sein Knie in der blauen Turnhose wippte, er nahm mit der Rechten die Gabel und stocherte im Fisch. Probierte. Schmeckte, wie kalt der Fisch war, und sein Grollen nahm zu, er geriet ins Schnaufen – und von einer Sekunde zur anderen schien Kurtacker zu bersten vor Wut, seine Augen glühten, die Haare fielen ihm noch tiefer in die Stirn und er zitterte, – der ist kalt! Der ist kalt! Der ist kalt … Himmel … und … Jetzt liefen ihm die Worte aufeinander, stauten sich, er konnte sie nicht mehr einzeln artikulieren, sie verknäulten sich in einem wütenden Laut einer unfähigen Zunge und explodierten dann, Kurtacker explodierte, hieb mit der Faust in das Porzellan und griff nach dem Teller, hob ihn hoch und feuerte mit aller Macht, Lotta duckte sich blitzartig, drehte sich, dann raste sie fort und knallte die Tür hinter sich zu. Drinnen hörte sie es toben und wüten, der Fisch klebte irgendwo an einer Wand. Mit fliegenden Fingern drehte Lotta den Schlüssel dreimal um. Sie sank gegen die Wand.
    Shit, sagte Lotta. – Shit. Der hätte sie beinahe getroffen. Hatte sie mit dem Fischteller bombardiert. So plötzlich. So kraftvoll. So böse.
    Kurtacker, der leidige Hund, der krumme Elendskerl, er hätte ihr das Augenlicht nehmen können oder den schönen Mund entstellen, Kurtacker, der blinde Tobsüchtige, in seinem staubigen Heim!
    Lotta zitterte und hielt sich an dem hölzernen Handlauf fest. An der Reling, an der ihr jetzt eine kleine, runde, wackelige Frau mit einem Stock entgegenkam.
    Guten Morgen!
    Guten Tag!
    Ich bin das älteste Sotzbacher Mädchen. Und ich bin hier geboren! Hier im Haus. Und ich habe bei der Frankfurter Rundschau gearbeitet. Krieg ich auch was zu essen?
    Aber Frau Siefert, äm, ich habe Ihnen doch eben im Speisesaal einen Fisch hingestellt!
    MIR? Nein, das kann nicht sein. Ich habe noch gar nichts gekriegt. Ich krieg immer gar nix.
    Ach.
    Lotta hatte keine Kraft mehr für die Wahrheit und suchte lieber noch einen Fisch. Irgendwo musste schließlich noch einer sein. Und während sie auf dem Wagen und im Speisesaal suchte, ging das Sotzbacher Mädchen wackelnd davon, ließ sich im Fernsehzimmer nieder und legte dem alten Alwis die Hand auf das Knie.
    Gucke mal, da bin ich. Ich bin das älteste Sotzbacher Mädchen. Und ich bin hier geboren. Hier im Haus. Und ich habe bei der Frankfurter Rundschau gearbeitet.
    Deddededei, sagte Alwis.
    Als Lotta mit dem Fisch ankam, hatte das Sotzbacher Mädchen ihn schon lange vergessen.

Jewgeni Schiwrin   lag auf seinem Sofa und befand sich in einem Tunnel. Vielleicht war es gut, dass er sein Leben in einem Tunnel verbracht
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