Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
Unrecht tat. Er war verschwunden, aber das musste nicht bedeuten, dass er auf eine Möglichkeit sann, ihr etwas anzutun. Hätte er nicht längst Gelegenheit dazu gehabt? Sie hatte ewig dort oben im Auto gesessen, wäre völlig wehrlos gewesen. Das hatte er nicht ausgenutzt. Vielleicht befand er sich auf der Flucht. Kopflos, gefangen in seiner eigenen Panik. So wie in jener Nacht.
    Sie durchquerte das Bootshaus, lief den Steg entlang. Sie hegte kaum Hoffnung, ihn am Boot anzutreffen, und tatsächlich war das Schiff so leer und verlassen wie zuvor.
    Sie sah sich um. Er konnte sich natürlich in jedem anderen Boot verborgen halten, aber was sollte ihm das bringen?
    »Marc?«, rief sie.
    Niemand außer einer Möwe antwortete.
    Sie fühlte sich etwas sicherer, seit sie wusste, dass Rob und Marina in der Nähe warteten, und dennoch empfand sie die Situation als unheimlich und beängstigend. Noch einmal rief sie seinen Namen, aber alles blieb still.
    Langsam ging sie zum Ufer zurück, trat in die Dunkelheit des Bootshauses. Wieder umfing sie der intensive Holzgeruch. Rechter Hand befanden sich die Fächer, in denen die Optis, die Boote für die Kinder, untergebracht waren. Sie erkannte einen Gang, an dessen Seite sich die abgeschlossenen Spinde der Clubmitglieder aufreihten. Sie lief den Gang entlang, konnte aber im Dunkeln fast nichts mehr sehen und stand bald vor einer Wand. Niemand versteckte sich hier.
    Wieder zurück warf sie im Licht der zu beiden Türen einfallenden Sonne einen Blick auf ihre Uhr. Fast zehn Minuten waren vergangen. Sie musste sich beeilen, sonst alarmierten Rob und seine Mutter die Polizei. Sie blickte die Treppe hoch, die zu dem dunklen Dachboden führte.
    »Marc?«, rief sie leise hinauf.
    Sie hatte noch ein paar Minuten. Es würde reichen, um hinaufzuhuschen und dort oben nach ihm zu sehen.
    Mit laut klopfendem Herzen stieg sie die Treppe hinauf. Sie hatte erwartet, oben von völliger Finsternis empfangen zu werden, und gefürchtet, den Lichtschalter in der Eile nicht zu finden, aber tatsächlich fiel durch ein kleines, ziemlich verdrecktes Dachfenster ein wenig Helligkeit ein. Der Raum war riesig, denn er nahm die gesamte Grundfläche des Gebäudes ein. Und er war völlig unüberschaubar: An den breiten Deckenbalken befanden sich Aufhängungen, an denen entlang sich Segel spannten. Riesige, weiße Segel. Sie mussten zu den Jollen gehören und waren vermutlich zum Lüften oder Trocknen aufgehängt. Sie unterteilten den Dachboden in eine Art Labyrinth, grenzten eine Menge kleiner Nischen, Gänge und Räume ein. Jedes Kind wäre bei diesem Anblick in helles Entzücken ausgebrochen.
    Rosanna dachte nur: O Gott!
    Ihr erster Impuls war umzukehren, wieder hinunterzulaufen und sich möglichst rasch auf den Weg zurück zum Auto zu machen. Ihr blieb ohnehin fast keine Zeit mehr. Es erschien ihr unwahrscheinlich, dass Marc hier oben kauerte. Er mochte in Panik sein, aber würde er sich ein derart absurdes Versteck suchen, in dem man ihn schnell entdecken würde und in dem er überdies nicht lange verweilen konnte? Es sei denn, er hatte nicht die Absicht, sich zu verstecken. Sondern er hatte darauf gewartet, dass sie hinaufkam, damit er …
    Ich dachte, du hättest beschlossen, an ihn zu glauben?
    Sie hatte auf einmal das unerklärliche Gefühl, nicht allein zu sein. Nicht unbedingt in diesem Raum, aber in diesem Gebäude. War es Einbildung oder ein echter Instinkt? Wahrscheinlich spielten ihre Nerven verrückt. Sie blieb völlig reglos stehen, lauschte in die Dämmerung, die sie von allen Seiten umschloss. Ihr Herz hämmerte. Sie konnte ihren eigenen Atem hören. Sie konnte Wände und Balken knacken hören, aber sie wusste, dass das normal war in einem Haus, das vollständig aus Holz gebaut war. Wahrscheinlich rührte daher auch ihr Gefühl, es sei noch irgendjemand anwesend. Die Lebendigkeit des Holzes. Die Tatsache, dass es unermüdlich arbeitete. Kein Grund, sich verrückt zu machen.
    Sie wandte sich um, zurück zur Treppe. Sie musste zum Auto. Hier oben war niemand. Es hatte keinen Sinn, sich durch das Gewirr der Segel zu kämpfen.
    Und in diesem Moment vernahm sie es. Ein Geräusch, das sie nicht identifizieren, nicht einordnen konnte. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, ob es sich um fremden Atem handelte, um Schritte … Aber es war ein Geräusch, das sich abhob vom Knistern und Knacken des Holzes, es gehörte dort nicht hin, es war anders. Es kam von der Treppe.
    Jemand kam die Treppe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher