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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur
Autoren: Charlotte Link
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wusste, dass sie nirgends auf der Welt jetzt hätte Schlaf finden können.
    Sie musste versuchen, ihn zu verstehen. Wenn sie ihn verstand, würde für sie beide vielleicht eine gemeinsame Zukunft möglich sein. Blieb sie hingegen irritiert, verunsichert und verängstigt zurück, dann war sie am Ende ihrer kurzen Beziehung zu Marc Reeve angelangt.
    Hatte er sich kriminell verhalten?
    Er hatte sich an jenem Abend in einer emotionalen Ausnahmesituation befunden. Seine Scheidung stand dicht bevor, ein Umgangsrecht oder ein geteiltes Sorgerecht für den Jungen, der ihm so viel bedeutete, würde nun gerichtlich ausgehandelt werden müssen. In seinen eigenen Augen, aber auch in denen von Josh und möglicherweise in denen des Richters, hatte er bislang als Vater versagt. Zwei Dinge konnten ihm angelastet werden: seine Fixierung auf seine Karriere, praktisch rund um die Uhr, und seine permanente eheliche Untreue. Ersteres gab er unumwunden zu, Letzteres stritt er vehement ab. Aber gerade für den zweiten Punkt lag nun ein handfester Beweis vor: eine junge Frau, die er am Flughafen kennen gelernt und mit nach Hause genommen hatte und die sich zu allem Unglück noch auf seiner Treppe das Genick gebrochen hatte. Eine fatale Verkettung von Ereignissen, die geeignet war, einen Menschen die Nerven verlieren zu lassen. Im Kurzschluss hatte er die tote Elaine und alle ihre Besitztümer in sein Auto geschafft. Wie er selbst gesagt hatte, war ihm dann aufgegangen, dass er nun kaum noch zurückkonnte – dass die Leiche hin- und hergetragen worden war, hätten Kriminaltechniker sofort herausgefunden, vermutlich hätte sich das sogar in der Autopsie gezeigt. Innerhalb kurzer Zeit hatte Marc aus einer Situation, aus der ihm möglicherweise, zumindest in strafrechtlicher Hinsicht, niemand einen Strick gedreht hätte, Umstände geschaffen, die ihn suspekt erscheinen ließen. Es gab nur sein Wort, dass er Elaine nicht gestoßen hatte, bevor sie fiel. Nachdem er alle Vorbereitungen getroffen hatte, die Geschichte zu vertuschen – wie viel wäre sein Wort dann noch wert gewesen?
    Die nun einsetzende Eigendynamik der Ereignisse hatte ihn in einen Zugzwang gebracht, dessen einzelne Schritte er sehr rasch nicht mehr hatte steuern können. Sein erstes überstürztes Handeln unmittelbar nach Elaines Tod hatte ihn in die Lage versetzt, nur noch reagieren zu können, je nachdem, wie sich die Erfordernisse stellten. Bis hin zu der Notwendigkeit, selbst bei der Polizei vorstellig zu werden, was ihn dann am Ende ironischerweise in genau die Schwierigkeiten gebracht hatte, die er hatte vermeiden wollen. Er hatte seinen Sohn verloren und war beruflich eingebrochen.
    Sie öffnete ihre Augen, blickte hinaus. Von Marc war nichts zu sehen, er schien noch am Schiff beschäftigt zu sein.
    Vielleicht ist es auch gar nicht der Gedanke, er könnte sich kriminell verhalten haben, der mich quält, dachte sie, sondern das Bewusstsein, von ihm getäuscht worden zu sein. Er hat mir die ganze Zeit etwas vorgespielt.
    Aber was hätte er sonst tun sollen?
    Vielleicht hätte er mit seinem Geständnis früher herausrücken sollen. Zu dem Zeitpunkt, da sie einander nicht mehr bloß sympathisch waren, sondern eine Beziehung begannen. Vielleicht auch dann noch, als er merkte, wie schwer die ganze Geschichte auf ihr lastete, wie sehr sie sich um Aufklärung bemühte. Stattdessen hatte er sein Lügengebilde immer weiter aufrechterhalten. Erst als er mit dem Rücken zur Wand stand, als ihm klar war, dass ihre Aussage bei der Polizei auf seine Überführung hinauslaufen würde, hatte er alles zugegeben. Von Freiwilligkeit oder eigenem Antrieb konnte nicht die Rede sein. Ganz gleich, wie es weiterging, diese Tatsache würde als bitterer Geschmack bleiben.
    Auch über Elaine hatte sie manches erfahren. Sie versuchte, sich die junge Frau in jener Nacht vorzustellen. Es war so typisch für Elaine, dass sie ihr ganzes Lebensschicksal jammernd und klagend vor einem wildfremden Mann ausgebreitet hatte. Völlig untypisch war die Rolle, in die sie hinterher offenbar geschlüpft war – die der Trösterin, der Seelenberaterin. Erstaunlich, dass sie den beherrschten, gefassten Marc Reeve, der perfekt Fassaden um sich herum errichten konnte, so sehr als Objekt für ihre wahrscheinlich gut gemeinte Intervention empfunden hatte. Wie viel Einsamkeit, Schmerz, Verletzlichkeit mochte Marc an jenem Abend ausgestrahlt haben? Elaine jedenfalls schien einen hilfsbedürftigen Menschen in ihm gesehen
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