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Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor

Titel: Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
Autoren: Anthony Mark
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für Kinder jahrzehntelang eines der größten Waisenhäuser im mittleren Colorado gewesen, aber vor etwa zwanzig Jahren hatte es dort gebrannt. Zu diesem Zeitpunkt waren Waisenhäuser aus der Mode gekommen, und man hatte es nie wieder aufgebaut. Travis konnte nicht behaupten, daß es ihm leid tat. Irgend etwas an dieser Ruine … stimmte nicht. Er war sich nicht sicher, was es war, aber oft ertappte er sich beim Vorbeifahren dabei, daß ihm finstere Gedanken kamen. Gedanken an Furcht, Leid oder Chaos. Vielleicht war es auch nur das Wissen, daß in dem Feuer Menschen ums Leben gekommen waren. Die Kinder hatten alle entkommen können, aber die Flammen schlossen einige der Angestellten in ihren Zimmern ein und verbrannten sie bei lebendigem Leib. Zumindest erzählten das die Gerüchte. Travis wußte nicht, ob die Geschichten der Wahrheit entsprachen, aber wenn es jemals einen Ort für Geister gegeben hatte, dann die Ruinen des Beckett-Strange-Heims für Kinder.
    Das alte Waisenhaus verschwand aus der Sicht, und Travis richtete den Blick auf die Straße. Es war die Zeit des Tages, an der sich Rotwild unerklärlicherweise dazu getrieben sah, aus dem Wald zu springen und sich vor fahrende Autos zu werfen. Er schaute konzentriert hin. Und einen Augenblick später erregte etwas seine Aufmerksamkeit, aber es war kein Hirsch. Er schaltete herunter, seine Eile war vergessen. Das Getriebe ächzte protestierend, dann verlangsamte der Pickup seine Fahrt.
    Es war eine Reklametafel.
    Reifen knirschten über Kies, und der Wagen kam am Straßenrand zum Stehen. Travis blickte aus dem Fenster. Wie viele hölzerne Gegenstände im Hochland war die Reklametafel ausgebleicht und rissig, darüber hinaus aber seltsamerweise völlig intakt. Das Ding hatte mindestens sechzig oder siebzig Bergwinter mitgemacht, und selbst das letzte auf seine Oberfläche geklebte Werbeplakat war schon vor langer Zeit verblichen. Travis konnte jedoch die geisterhaften Umrisse von Leuten ausmachen, die Kleidung trugen, wie sie vor zwei Jahrzehnten modisch gewesen war; sie lachten, während sie köstlichen Rauch aus weißen Stäbchen einsogen, die zwischen ihren langen Fingern steckten.
    Die schwere Tür des Pickups schwang auf. Travis stieg aus. Kalte Luft wisperte durch trockene Büsche, und er war dankbar für seine dicke Schaffelljacke. Darunter trug er verblichene Bluejeans und ein braunes Arbeitshemd. Travis war ein großer Mann, gerade noch schlank genug, um nicht als massig bezeichnet zu werden, aber er hatte die unbewußte Neigung, seine breiten Schultern nach vorn zu krümmen. Mit seinen dreiunddreißig Jahren war sein Gesicht jungenhaft geblieben, und wenn er sein schiefes Lächeln lächelte, ließ es an eine spitzbübische Art denken, womit man nicht einmal falsch lag. Sein Haar hatte genau die Farbe von staubigem gelben Sandstein, aber sein Bart, den er manchmal gegen die Winterkälte oder auch aus schierer Faulheit wachsen ließ, wies kupfer- und goldfarbene Strähnen auf.
    Travis richtete die Nickelbrille vor seinen hellen Augen. Jack Graystone hatte sie ihm vor ein paar Jahren geschenkt. Jack war der Besitzer des Magician's Attic, einem Antiquitätenladen im Westen der Stadt, außerdem war er einer von Travis' ältesten Freunden, vielleicht sogar sein bester. Die Brille war über hundert Jahre alt und hatte einst einem jungen Revolverhelden namens Tyler Caine gehört. Jack pflegte zu sagen, die beste Methode, das Hier und Jetzt zu verstehen, bestünde darin, es mit dem Blick einer fernen Zeit und eines fernen Ortes zu betrachten. Manchmal hielt Travis Jack für den weisesten Mann, den er kannte.
    Travis näherte sich der Reklametafel, seine abgetragenen Stiefel verursachten schabende Geräusche auf dem harten Boden. Dort – genau dort war das, was sein Interesse erregt hatte. Der nächtliche Sturmwind hatte ein Stück der alten Zigarettenwerbung abgerissen. Travis atmete die kalte Luft tief ein. Durch das Loch in der Werbung konnte er etwas sehen, das wie das Gemälde einer zerklüfteten Landschaft aussah. Nur daß es nicht genau wie ein Gemälde aussah. Es war zu real, eher wie eine Fotografie, atemberaubend in seiner perfekten Schärfe. Er konnte nur den Rand eines schneebedeckten Berggipfels sehen, hinter dem sich ein grüner Wald erstreckte. Unwillkürlich streckte Travis die Hand nach der Reklametafel aus, um noch mehr von dem bunten Papier abzureißen.
    Das war der Augenblick, in dem er es hörte.
    Der Glockenklang war leise und schien aus
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