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Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor

Titel: Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
Autoren: Anthony Mark
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»Ja, um dort zu warten.«
    Sie faßten sich wieder bei den Händen, wandten der Nacht ihre Rücken zu, betraten das Zelt und ließen die in der Senke liegende kleine Gebirgsstadt allein in der Dunkelheit weiterschlafen.
     

 
    ERSTER TEIL
    Die Finsternis kommt
     
     

1
    Manchmal gab der von den Bergen ins Tal wehende Wind Travis Wilder das Gefühl, daß alles möglich war.
    Er konnte ihn stets kommen hören, lange bevor der erste verräterische Hauch schneefreier Luft sein Gesicht berührte. Er begann als fernes Donnern hoch oben am Rand des Canyons, beinahe wie die uralte Stimme eines sturmgepeitschten Ozeans und zugleich doch ganz anders. Kurz darauf konnte er ihn sehen, wie er in einer Welle nach der anderen durch den Wald rauschte, der die granitfelsigen Bergzüge bedeckte, die das Tal einkreisten. Kiefern wiegten sich in einem anmutigen Rhythmus, während die Espen erst grün, dann silbern und zum Schluß wieder grün schimmerten. Augenblicke später fuhr er in wilden Kreisen durch die Hirse, die auf den verlassenen, vor der Stadt befindlichen Feldern wuchs, und ließ sie als letzte Vorankündigung rascheln.
    Dann schlug der Wind zu.
    Er raste wie eine unsichtbare Geisterherde aus Indianerponys die Elk Street – Castle Citys breite Hauptstraße – entlang. Vorbei an McKays General Store. Vorbei am Mosquito Café. Vorbei am geschlossenen Erzprüfungsbüro, dem Mine Shaft Saloon, dem Blue Summit Earth Shop und dem verblichenen viktorianischen Musiktheater. Hunde bellten und schnappten nach vorbeirollenden, aus Zeitungen bestehenden Tumbleweeds. Spazierende Touristen drehten sich um und kniffen die Augen zu, um sie vor den Sturmböen zu schützen, in denen Kaugummipapier und die zerknüllten Zellophanhüllen von Zigarettenpackungen funkelten. Die Cowboys von der Dude-Ranch hielten ihre schwarzen Hüte mit den Händen fest, an denen Türkisringe schimmerten, während sich ihre Staubmäntel hinter ihnen aufblähten wie Schwingen aus Kuhhaut.
    Vielleicht war er der einzige Bewohner der Stadt, der verrückt genug dazu war, aber Travis liebte den Wind. Vom ersten Augenblick an. Er pflegte dann immer aus der mit Schrotkugeln gesprenkelten Tür des Mine Shaft Saloon zu treten – er war der Besitzer des Saloons, eine zweifelhafte Ehre – und sich über das Geländer des hölzernen Gehsteigs zu lehnen, um das Gesicht in die Böen zu halten. Man konnte unmöglich feststellen, wo der Wind herkam oder was er vor sich hertrieb. Travis atmete die beseelte Luft tief ein, die nach kaltem Gebirge und von der Sonne gewärmten Pinienbäumen duftete, und fragte sich, wessen Lungen sie zuletzt gefüllt hatte – wo sie lebten, welche Sprachen sie sprachen, welche Götter sie anbeteten, ob sie überhaupt welche anbeteten und welche Träume sie hinter den Hunderten geschlossener Augen verschiedener Formen und Farben zu träumen wagten.
    Zum ersten Mal hatte ihn dieses Gefühl an jenem Tag übermannt, an dem er aus dem schlammverkrusteten Bus gestiegen war – ein Junge aus dem Flachland, der zwischen den geraden und dunstigen Horizonten Illinois' aufgewachsen war – und Castle Citys Anblick in sich aufgenommen hatte. In den sieben Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er dieses Gefühl mit überraschender und tröstlicher Regelmäßigkeit verspürt; es hatte seine Kraft mit der Zeit keinesfalls verloren. Sich dem Wind entgegenzustellen hinterließ stets den Schmerz einer unmöglich in Worte zu fassenden Sehnsucht in seiner Brust sowie das Gefühl, sich nicht für eine Sache entscheiden zu müssen, weil alles möglich war.
    Doch trotz seiner vielen Träumereien hätte Travis niemals erahnen können, was der Wind an diesem kühlen Abend, der in der grauen Zeit zwischen den goldenen und himmelblauen Herbsttagen und der eiserstarrten Farbenpracht einer Winternacht gefangen war, nach Castle City und in sein Leben hineinwehen würde. Viel später sollte er all die seltsamen und unerwarteten Ereignisse mit der bedeutungslosen Klarheit der Rückschau noch einmal Revue passieren lassen, um den genauen Augenblick festzunageln, an dem sich die Dinge zu verändern begannen. Es war ein unbedeutender Vorfall, so unbedeutend, daß er sich vermutlich gar nicht mehr daran erinnert hätte, wäre da nicht die Tatsache gewesen, daß die Dinge danach niemals wieder so sein würden – und konnten – wie zuvor.
    Es war das Glockenspiel.

2
    Das nachmittägliche Sonnenlicht strömte wie flüssiges Gold in das Bergtal, als Travis Wilder
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