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Diebin der Nacht

Diebin der Nacht

Titel: Diebin der Nacht
Autoren: Meagan McKinney
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Prolog
    September 1881
    Rafael Beiloch zog den Ledervorhang beiseite, als seine Kutsche an der City Hall vorbeirollte. Er streckte den Kopf hinaus und rief dem Kutscher zu: »Fahr hinüber zur Baxter Street!«
    »Aber das ist in Five Points, Sir. Und es dämmert bereits.«
    »Genau richtig. Und nun fahr bitte!«
    »Es wimmelt dort nur so von rauen Gesellen, Sir. Die Wiege von Banden und all dem.«
    »Das ist mir völlig egal. Fahr schon los.«
    »Wie Sie wünschen, Sir.«
    Der Kutscher ließ sein Signalhorn erschallen, um die übrigen Verkehrsteilnehmer zu warnen. Dann knallte er die Zügel auf die glänzenden Hinterbacken des Pferdegespanns und die schwarz lackierte Kutsche bog scharf um die nächste Ecke.
    Rafe ließ den Vorhang zurückgezogen und sank müde in den Sitz aus gestepptem Satin zurück, während er beobachtete, wie der Tag in die Nacht überging. Ein zunehmender Mond war über der Upper Bay aufgegangen. Von hier aus konnte er einen schemenhaften Blick auf den Manhattan- Turm der noch unvollendeten Brücke erhaschen, der sich vor der Skyline kühn über den East River erhob. Das
    Gewirr von Drahtkabeln bildete eine spinnwebartige Silhouette vor dem sich verdunkelnden Himmel.
    In den Leitartikeln der Zeitungen wurde mit Überzeugung vorausgesagt, dass die schwerfällige Konstruktion täglich unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen könnte. Drüben im Westen hatte er jedoch seinen Ingenieuren und Arbeitern dabei zugeschaut, wie sie Zugtunnel durch scheinbar undurchdringliche Berge aus reinem Granit gesprengt hatten. Die Brücke würde standhalten. Darauf wettete er.
    Alles Menschenerdenkliche schien in diesen Tagen möglich zu sein. Einige glaubten, dass das berauschende Zeitalter längst an die Grenzen allen Wissens gestoßen sei. Rafe jedoch verachtete diese selbstgefällige Blindheit. Die Menschen konnten Berge in die Luft jagen und Türme bauen, die in den Himmel hineinragten, sie konnten jedoch noch kein Kind davon abhalten, in den dunklen Gassen der Baxter Street betteln zu gehen. Der Fortschritt war gut für das Bankkonto, jedoch ohne Nutzen für die Seele - oder das verhärtete Herz eines Mannes, der in erster Linie für die Rache lebte.
    Das Getrappel der Pferde, die Kabrioletts und Kaleschen zogen, wurde schwächer, als seine Kutsche die gut instand gehaltenen Straßen aus blauem Tonsandstein gegen die unbefestigten Wege der Slums eintauschte. Einen kurzen Moment lang, bevor das laute Geschrei von Five Points ihn umgab, war es beinahe ruhig, so ruhig, dass er das abendliche Angelusläuten der St. Patricks Cathedral hören konnte.
    Tagsüber war die Baxter Street ehrbaren Männern nicht unbekannt. Ihre Lage an der Lower East Side machte sie ideal für viele City-Hall-Beamte. Ein Mann konnte seinen Tabakwarenhändler und seine Hure auf einem Weg besuchen, denn oftmals befanden sich diese im selben Gebäude.
    Rafe wusste, dass das Viertel seit der berüchtigten Epoche, in der rivalisierende Banden sich ständig gegenseitig bekämpft hatten, ein wenig besser geworden war. Selbst Charles Dickens hatte sich einst geweigert, dieses Gebiet ohne Geleitschutz zu betreten. Das lag jedoch dreißig Jahre zurück, und in der ehemals gefährlichen Old Breweiy befand sich nun eine Kirchenmission. Trotzdem mieden die meisten New Yorker noch immer Five Points, als ob es das Tor zur Hölle wäre - vor allem nach Einbruch der Dunkelheit. Genau das jedoch war der Grund, aus dem er immer wieder darauf bestand, dorthin zu gehen - er, ein Patriarch der »oberen Vierhundert«, Mrs. Astors Auserwählter. Die Fifth-Avenue-Brahmanen, wie er sie verächtlich nannte.
    Sie? Uns, korrigierte er sich selbst. Uns.
    Eine Fahrt durch Five Points war genau das richtige Gegenmittel, wann immer er sich dabei ertappte, selbstgefällig zu werden. Der Luxus und der Status seines neuen Reichtums waren wie ein Bad, in das man sich mühelos hineingleiten lassen konnte. Er brauchte jedoch den Anblick der Armut, um niemals zu vergessen, dass seine Rolle die der Rache war; Rache an genau den Menschen, die ihn nun umarmten. An denselben erbärmlichen Reichen, die seiner Familie Ruin und Schande bereitet hatten. Denselben amoralischen Menschen, die ihn als Kind nach Five Points getrieben hatten, und die niemals zurückgeschaut hätten.
    Draußen im Licht der Gasbeleuchtung flackerten unheimliche Schatten. Sie rollten an Holzhäusern vorbei - modrig und ohne Anstrich -, dazwischen hohe Mietskasernen aus Ziegelstein. Als er einen Blick auf
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