Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Flucht

Die letzte Flucht

Titel: Die letzte Flucht
Autoren: Wolfgang Schorlau
Vom Netzwerk:
finden konnte. Kurz zusammengefasst ist das: Ihr Freund soll die neunjährige Jasmin Berner entführt, vergewaltigt und getötet haben. Was sind die wichtigsten Beweise?«
    »Jasmin Berner wurde auf dem Schulweg entführt, dann offenbar versteckt, einige Tage später mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Kurz zuvor aber wurde sie vergewaltigt. Es gibt zahlreiche Hinweise auf Bernhard, unter anderem fanden sich an der Leiche Spermien von ihm.«
    »Sicher?«
    »Der DNA – Test ist eindeutig. Zu 99 Prozent.«
    »Dann sieht es schlecht aus.«
    Das Gesicht des Anwalts wirkte plötzlich alt und eingefallen.
    »Vielleicht. Vielleicht muss ich mich wirklich damit abfinden, dass ein Mensch, den ich seit Jahren gut kenne, ein Mädchenmörder ist. Wer sieht schon wirklich in einen anderen hinein? Aber Bernhard? Ein Mörder? Ich kann es einfach nicht glauben. Und ich werde es erst glauben, wenn ich mit meinem Versuch gescheitert bin, seine Unschuld zu beweisen. Wissen Sie, Bernhard ist ein anerkannter Wissenschaftler. Er hat einen Beruf, in dem er absolut erfolgreich ist. International renommiert. Seine Forschung rettet Menschenleben. Manchmal witzeln wir, dass er zusammen mit seinem Bruder den Nobelpreis gewinnen wird. Er hat eine Familie, zwei Kinder, auch Mädchen. Er hat etwas zu verlieren. Stellen Sie sich einmal vor, wie es den beiden Mädchen geht. Seiner Frau! Bevor ich akzeptiere, dass ich mich getäuscht habe, werde ich alles unternehmen, um die Vorwürfe zu prüfen. Das bin ich ihm und mir schuldig. Deshalb will ich Sie engagieren. Verstehen Sie?«
    Dengler nickte.
    »Ich möchte mit Ihrem Klienten reden«, sagte er.
    »Das wird nicht gehen. Er ist Untersuchungsgefangener in Moabit.«
    Dengler hatte plötzlich Sehnsucht nach Olga. Sie hatte recht. Er sollte diesen Fall nicht annehmen. Er wollte nicht für einen Kindermörder arbeiten.
    »Lesen Sie wenigstens die Akten«, sagte Lehmann leise.
    »Ich muss den Mann sehen«, sagte Dengler. »Vorher kann ich nicht entscheiden, ob ich für ihn arbeiten will.«
    »Sie dürfen nicht nach Moabit. Nur Anwälte dürfen zu ihm. Es ist nicht erlaubt.«
    Dengler stand auf.
    »Ich glaube, dieser Fall ist nichts für mich. Sie finden in Berlin sicher einen anderen Kollegen, der Ihnen hilft.«
    Lehmann schien kleiner zu werden.
    Dengler betrachtete sein Gesicht.
    Der Mann war wirklich traurig. Das hatte er in dem New Yorker Seminar gelernt. Die Aufwärtsneigung der Augenbrauen bildet bei traurigen oder trauernden Menschen eine vertikale Falte zwischen den Brauen.
    »Ich würde gern wissen, ob sich ein Mensch so perfekt verstellen kann«, sagt Lehmann. »Ich weigere mich, es zu glauben. Aber vielleicht bin ich zu naiv.«
    Dengler zögerte. Der Mann tat ihm leid.
    »Hören Sie. Ich muss Ihren Freund sehen. Ich bin objektiv, und ich verstehe mein Handwerk. Ich kann vielleicht herausfinden, ob Ihr Freund lügt oder nicht. Aber ich muss ihn sehen. Ich muss sein Gesicht sehen, seine Körperhaltung, seine Stimme – und seine Version der Geschichte hören. Kurz: Ich muss seine Gefühle lesen.«
    »Gefühle lesen? Das klingt, nehmen Sie es mir nicht übel, ein wenig nach Küchenpsychologie …«
    »Ich war gerade in New York. Es gibt eine riesige Forschungseinrichtung des FBI . Dort erforschen sie Mimik und Gestik. Sie gehen den Fragen nach, inwieweit der Mensch seine Mimik beeinflussen kann. Und vor allem, was steuerbar ist und was nicht, welche Gesichtsreaktionen unmittelbar sind, also die Wahrheit verraten. Ein spannendes Feld. Und sehr erfolgversprechend. Ich bin kein Spezialist in diesen Sachen, aber es wäre den Versuch wert.«
    »Nun, schaden würde es nicht, wenn Sie Bernhard einmal sehen und sprechen könnten, vielleicht könnte Sie das überzeugen. Wie könnten wir das machen?«
    Plötzlich schmunzelte er: »Es gibt einen Weg – etwas ungewöhnlich, aber es wird funktionieren. Wir machen Sie zu meinem Anwaltsgehilfen.«

[Menü]
9. Seminar
    Zwei Stunden später unterschrieb Dengler einen Arbeitsvertrag. Nun war er Anwaltsgehilfe. Angestellt bei der Kanzlei Lehmann & Partner. Morgen würde er mit Lehmann ins Gefängnis Moabit fahren und Voss besuchen.
    Den Mörder.
    Den mutmaßlichen Mörder, verbesserte er sich.
    Schließlich war er Polizist.
    Ehemaliger Polizist, verbesserte er sich.
    Der Polizeidienst hatte ihn mehr geprägt, als ihm recht war. Er wusste es. Einmal Bulle – immer Bulle. Alle anderen Fähigkeiten sind verkümmert. Alle außer einer: der Fähigkeit zur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher