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Die letzte Dämmerung: Roman (German Edition)

Die letzte Dämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Die letzte Dämmerung: Roman (German Edition)
Autoren: Ellen Connor
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sehen.
    Jenna starrte ihn stumm an. Wie hätte sie auch durch das Isolierband hindurch antworten sollen? Nicht, dass es einen Sinn gehabt hätte. Es war schon maßlos übertrieben, ein Kaff wie Culver als Stadt zu bezeichnen. Nicht, dass Verrückte sich sinnvoll äußern mussten. Ein Schauer durchlief sie, als die Sonne völlig hinter dem dichten Grün verschwand und die Welt in Schatten tauchte. Der Einbruch der Nacht hatte noch nie so unheilverkündend gewirkt.
    »Wir sollten jedenfalls reingehen. Wir können uns in der Hütte unterhalten. Es ist verdammt kalt hier draußen, und ich habe deinem Vater versprochen, auf dich aufzupassen.«
    Das war völliger Schwachsinn. Mitch Barclay war gestorben, als sie zwölf gewesen war, und sogar vorher hatte er sich nie sonderlich für ihr Wohlergehen interessiert – außer wenn es ihm gerade gepasst hatte. Er war wie ein Gespenst in ihrem Leben erschienen und wieder verschwunden. Jedes Mal schien seine Verbindung zur Realität schwächer geworden zu sein. Sein letzter Besuch war so seltsam gewesen, dass sie ihn nie mehr hatte sehen wollen. Er war anscheinend nur gekommen, um sie anzustarren, so, als könnte er mit einem Röntgenblick in das Innere ihres Kopfes schauen.
    Der Mann kniete sich hin und zog das Klebeband von ihren Knöcheln ab. Jenna wäre gern losgelaufen, aber schlecht vorbereitet in die Kälte aufzubrechen wäre vielleicht dümmer gewesen, als zu bleiben. Außerdem waren ihre Füße mittlerweile völlig taub. Das Blut schoss unter stechenden Schmerzen wieder ein.
    Jenna lenkte sich davon ab, indem sie sich das Äußere der Behausung einzuprägen versuchte. Vielleicht konnte sie einige Einzelheiten in ihrer SMS erwähnen. Sie standen auf einer von dicken Bäumen umgebenen Lichtung. Das Blockhaus sah wie eine Jagdhütte aus, rustikal, aber nicht schäbig oder ungepflegt.
    Als der Mann sich aufrichtete, erwies er sich als größer, als ihr bisher klar gewesen war, vielleicht an die dreißig Zentimeter größer als ihre eigenen eins siebzig. Seine dunkle Haut wies auf eine gemischte Abstammung hin, und er war wie ein Mack-Truck gebaut. Reine Muskelmasse. Mit einem Wort: Sie hätte ihn mit einem Ziegelstein schlagen können, ohne dass er es auch nur bemerkt hätte.
    Sie würde ihn überlisten müssen.
    Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, vor ihm her zur Hütte zu gehen. Nicht aus Höflichkeit, sondern eher weil er sie im Auge behalten wollte. Sie stolperte ein bisschen, da ihre Beine immer noch steif waren und kribbelten. Er stützte sie überraschenderweise mit einer Hand im Rücken. Sie zuckte zusammen und entzog sich ihm, aber ein kleiner Teil von ihr war dankbar, dass sie nicht gestürzt war. Reiß dich zusammen. Bleib ruhig.
    Jenna ging über die ordentliche Veranda; ihre Schuhe klapperten auf dem hölzernen Bretterboden. Furcht ließ erneut Übelkeit in ihr aufsteigen, als sie die Tür erreichte. Er beugte sich an ihr vorbei und öffnete sie – wohl abermals nicht als Zeichen guter Manieren, sondern eher weil ihre gefesselten Hände sie einschränkten. Das Innere der Hütte passte zum Äußeren: Webteppiche, handgeschnitzte Möbel mit heimeligen selbstgenähten Kissen und einem großen steinernen Kamin. Eine altmodische Küchenzeile war mit avocadogrünen Geräten ausgestattet, und eine Leiter führte zu etwas hinauf, das vielleicht ein Dachboden war.
    »Geh hinein«, sagte er. »Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern. Dann schneide ich dich los, damit du all die Fragen stellen kannst, die ich in deinen Augen brennen sehe.«

2
    Mason sah von der Tür aus zu, wie Jenna sich in dem übergroßen Ohrensessel niederließ, zwar mit angstverzerrtem Gesicht, aber elegant. Der riesige Sessel hätte besser zu einem Holzfäller gepasst. Sie wirkte darin wie ein Zwerg. Sie hielt den Rücken aufrecht, die gefesselten Hände in den Schoß gelegt und die kühlen grünen Augen auf den leeren Kamin gerichtet.
    Mason war erstaunt darüber, dass sich Mitchs Tochter als anmutig und gefasst erwies. Prophetisch begabt, gerissen, sogar tüchtig – das alles hätte einen Sinn ergeben. Mitch Barclay war unbestreitbar findig gewesen. Aber anmutig? Niemals. Doch Mason hatte es schon gespürt, als er Jenna in den Kofferraum gehoben hatte. Durch den Wintermantel und ihre verspätete Gegenwehr hindurch hatte er den Körper einer Tänzerin gehalten. Lange Gliedmaßen und widerstandsfähige Muskeln. Seine eigenen Muskeln hatten darauf reagiert; Blut und Knochen hatten in ihrer
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