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Die Leiden eines Chinesen in China

Die Leiden eines Chinesen in China

Titel: Die Leiden eines Chinesen in China
Autoren: Jules Verne
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der Mann.
    Nun, und wen suchte der Schüler Wang’s denn zu finden? Nur den Beauftragten des Philosophen. Jetzt führte man ihn ja seinem Ziele entgegen. Ob er freiwillig oder gezwungen dahin gelangte, konnte ihm schließlich gleichgiltig sein. Das Jammern und Klagen darüber überließ er Soun, dem die Zähne klapperten und dem der Kopf zwischen den Schultern nicht mehr festzusitzen schien.
    Kin-Fo bewahrte seinen ganzen Gleichmuth und ließ sich willig führen. Endlich sollte er ja dazu gelangen, mit Lao-Shen wegen des Rückkaufes seines Briefes zu verhandeln. Das wünschte er ja. Was hätte er zu klagen gehabt?
    Von der Großen Mauer aus folgte die kleine Truppe nicht der Hauptverkehrsstraße der Mongolei, sondern bog auf steile, gewundene Fußstege ein, die sich in den rechten, bergigeren Theil der Provinz hineinschlängelten. Eine Stunde lang zog man, so gut das Terrain es zuließ, raschen Schrittes dahin. Kin-Fo und Soun gingen unter strenger Bewachung in der Mitte, so daß sie nicht hätten fliehen können, woran sie übrigens auch gar nicht dachten.
    Nach anderthalb Stunden bekamen Wächter und Gefangene, als sie um einen Bergabhang bogen, ein halbverfallenes Bauwerk zu Gesicht.
    Es war eine alte, auf einem Berggipfel errichtete Bonzerie, ein merkwürdiges Denkmal buddhistischer Architektur. Wohl durfte man sich freilich die Frage vorlegen, welche Art von Gläubigen es wagten, diesen Tempel in der Einöde zu besuchen. Vielmehr sah es aus, als ob Jeder, der sich hierher verirrte, in dem unterbrochenen, zu Fallen und Hinterhalten höchst günstigen Terrain das Leben aufs Spiel setzte.
    Dagegen mußte zugegeben werden, daß der Tat-Ping, Lao-Shen, wenn er seinen Schlupfwinkel in diese wilde Gegend verlegte, eine sehr zweckentsprechende Wahl getroffen hatte.
    Auf eine Anfrage Kin-Fo’s bestätigte der Führer der Escorte, daß Lao-Shen wirklich in jener Bonzerie hauste.
    »Ich wünschte ihn sofort zu sehen, sagte Kin-Fo.
    – Ja, ja, sofort!« antwortete der Mann.
    Nachdem man Kin-Fo und Soun alle Waffen vorsorglich abgenommen, wurden sie in einen geräumigen Vorraum, das Atrium des Tempels, eingeführt. Hier standen etwa zwanzig bewaffnete Männer im malerischen Kostüme der Straßenräuber, deren wilder Gesichtsausdruck nichts Gutes versprach.
    Kin-Fo schritt beherzt durch die Doppelreihe der Taï-Ping hin. Soun freilich mußte vorwärtsgedrängt und gestoßen werden, womit er auch nicht verschont wurde.
    Vom Hintergrunde dieses Vorraumes aus durchbrach die dicke Umfassungsmauer eine Treppe, deren Stufen weit durch das Bergesinnere hinführten.
    Offenbar befand sich also eine Krypte unter dem Hauptgebäude der Bonzerie, nach dem man nur sehr schwierig, oder ohne nähere Kenntniß der unterirdischen Irrgänge vielleicht gar nicht vordringen konnte.
    Etwa dreißig Stufen führte jene Treppe nach unten, dann ging es gegen hundert Schritte gerade aus, wobei mehrere Leute von der Escorte mit rauchenden Fackeln leuchteten, und hierauf betraten die beiden Gefangenen einen weiten, ebenfalls von Fackellicht mäßig erleuchteten Saal.
    Es war das eine Höhle. Dicke Pfeiler, geschmückt mit grinsenden Köpfen von Ungeheuern, welche der grotesken Fauna der chinesischen Mythologie angehörten, trugen die gedrückte Deckenwölbung, deren Rippen in mächtigen Schlußsteinen zusammenliefen.
    In dem unterirdischen Raume erhob sich ein dumpfes Gemurmel beim Eintritte der beiden Fremdlinge.
    Der Saal war nämlich keineswegs leer; ihn füllte eine Menge Menschen bis in die dunkelsten Tiefen.
    Hier hatte sich die ganze Bande des Taï-Ping wie zu einer verdächtigen Feierlichkeit versammelt.
    Im Grunde der Höhle stand ein großer kräftiger Mann auf einer steinernen Estrade, der etwa dem Präsidenten eines geheimen Gerichtes glich. Einige seiner Leute, die sich ebenso unbeweglich hielten wie er, schienen die Stelle von Beisitzern zu vertreten.
    Jener Mann gab ein Zeichen mit der Hand. Sofort zertheilte sich die Menge und ließ die beiden Gefangenen passiren.
    »Da ist Lao-Shen!« sagte der Führer der Escorte, auf die stehende Persönlichkeit hinweisend.
    Kin-Fo schritt auf den Bezeichneten zu und ging ohne Vorrede auf den Zweck seines Erscheinens ein, entschlossen, seiner ungewissen Lage auf eine oder die andere Weise ein Ende zu machen.
    »Lao-Shen, begann er, Du bist im Besitze eines Dir von Wang, Deinem alten Kriegskameraden, überlassenen Briefes von mir. Derselbe ist jetzt gegenstandslos geworden und ich ersuche Dich, mir
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