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Die Leiden eines Chinesen in China

Die Leiden eines Chinesen in China

Titel: Die Leiden eines Chinesen in China
Autoren: Jules Verne
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vor. Sie machten niemals Rast, weder an schattigen Stellen des Weges oder an den vereinzelten Meierhöfen, noch in den Dörfern, die sich schon von fern durch die, zu Ehren irgend eines buddhistischen Helden errichteten Grabthürme verriethen. Sie zogen hinter einander hin, geleitet von ihren Kameelen, welche die Gewohnheit haben, eines hinter dem anderen zu gehen, und die das Läuten einer an ihrem Halse befestigten Glocke in gleichmäßigem Tact erhält.
    Eine Unterhaltung verbot sich unter diesen Umständen von selbst. Der von Natur wenig gesprächige Führer nahm stets die Spitze des Zuges ein und ließ die Blicke über die Landschaft schweifen, so weit es der dichte Staub erlaubte. Ueber den einzuschlagenden Weg war er nie im Unklaren, selbst an Straßenkreuzungen, wo ihm kein Wegweiser zu Hilfe kam. Wenn Craig und Fry ihr Mißtrauen nach und nach aufgaben, so beobachteten sie dafür den kostbaren Clienten der »Hundertjährigen« desto sorgsamer. Erklärlicher Weise steigerte sich ihre Unruhe, je mehr sie sich dem Ziele näherten. Jeden Augenblick konnten sie ja, ohne in der Lage zu sein, dem zuvorzukommen, einem Menschen gegenüber stehen, der ihnen durch einen wohlgezielten Stoß die anvertrauten zweimalhunderttausend Dollars raubte.
    Kin-Fo für seine Person befand sich in jener Gemüthsverfassung, in der die Erinnerung an die Vergangenheit keinem Gedanken an die Zukunft Raum giebt. Er überblickte im Geiste sein Leben während der letzten zwei Monate. Sein beharrliches Mißgeschick flößte ihm doch einige Unruhe ein. Seit dem Tage, an dem sein Correspondent in San-Francisco ihm die Nachricht seines vermeintlichen Ruins übermittelte, hatte ihn ein Unfall nach dem anderen verfolgt. Sollte wohl der zweite Theil seines Lebens wieder gut machen, was er unter Verachtung der Annehmlichkeiten des ersten verloren? Würde diese Reihe von Enttäuschungen noch mit der Wiedererlangung jenes Briefes endigen, der sich jetzt in Lao-Shen’s Händen befand, vorausgesetzt, daß ihn jener ohne Schwierigkeiten herausgab? Und würde es der liebenswürdigen Le-U gelingen, durch ihre Gegenwart, ihre Sorgfalt und Zärtlichkeit die bösen Geister zu besänftigen, die gegen ihn verschworen zu sein schienen? Alles das ging ihm durch den Kopf und verursachte ihm Sorge und Unruhe. Und Wang? Ihm konnte er ja nicht einmal einen Vorwurf machen, ein gegebenes Versprechen haben halten zu wollen; aber Wang, der langjährige Gast des Yamens in Shang-Haï, war ja im besten Falle doch nicht mehr vorhanden, ihm mit seinem weisen Rathe zur Seite zu stehen!
    »Sie werden fallen, rief da plötzlich der Führer, dessen Kameel von dem Kin-Fo’s gestoßen worden war, während Letzterer mitten in seinen Träumereien fast aus dem Sattel fiel.
    – Sind wir am Ziele? fragte er.
    – Es ist erst acht Uhr, antwortete jener, und ich schlage vor, Halt zu machen, um etwas Abendbrot zu genießen.
    – Und nachher?
    – Nachher ziehen wir wieder weiter.
    – Darüber wird es Nacht werden.
    – O, fürchten Sie nicht, daß ich mich verirre. Die Große Mauer liegt in einer Entfernung von kaum zwanzig Lis von hier und wir müssen unseren Thieren ein wenig Ruhe gönnen.
    – Wie Sie denken!« erwiderte Kin-Fo.
    Neben der Straße stand ein altes, baufälliges Haus. Vor demselben schlängelte sich ein Bach dahin, in dem die Kameele ihren Durst löschen konnten.
    Inzwischen ließen sich Kin-Fo und seine Begleiter in dem Gebäude nieder und schmausten wie Leute, deren Appetit durch einen langen Marsch rege geworden ist.
    Eine Unterhaltung wollte auch jetzt nicht in Fluß kommen. Kin-Fo bemühte sich vergebens, das Gespräch auf Lao-Shen zu bringen. Er fragte den Führer nach diesem Taï-Ping und ob er ihn persönlich kenne. Der Führer schüttelte den Kopf und vermied es offenbar, deutliche Antwort zu geben.
    »Kommt er zuweilen in diese Provinz? fragte Kin-Fo.
    – Nein, entgegnete der Führer, doch drangen einige Taï-Ping seiner Bande manchmal über die Große Mauer vor, und es war nicht gerathen, ihnen in den Weg zu kommen. Buddha behüte uns vor den Taï-Ping.
    Auf diese Erklärungen hin, von denen der Führer nicht einmal wußte, wie sehr sie den Fragesteller interessirten, wechselten Craig und Fry einen Blick, zogen ihre Uhren aus der Tasche und schüttelten den Kopf.
    »Warum sollten wir nicht ruhig den Tag erwarten? sagten sie.
    – Unter diesem Gerölle? versetzte der Fährer. Da ziehe ich doch das freie Feld vor, wo man vor einem Ueberfall gesicherter
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