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Die Leiche am Fluß

Die Leiche am Fluß

Titel: Die Leiche am Fluß
Autoren: Colin Dexter
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Bestimmt würde ein Umschlag auf dem «Welcome»-Fußabtreter liegen, wenn sie nachmittags von der Schule kam.
    Die (heute) sechsundvierzigjährige Julia Stevens mit dem tizianroten Haar wäre mit ihrem Leben (zumindest eine Spur) zufriedener gewesen, wenn sie sich hätte sagen können, daß sie nach fast dreiundzwanzig Jahren noch immer Freude an dem von ihr gewählten Beruf hatte. Doch das war nicht der Fall, und sie wußte, daß sie ohnehin bald das Handtuch geworfen hätte, auch ohne daß...
    Auch ohne daß...
    Aber diesen Gedanken verbannte sie rasch in einen der verborgensten Winkel ihres Bewußtseins.
    Schuld an der Berufsmüdigkeit waren nicht so sehr ihre dreizehn- bis achtzehnjährigen Schüler, obschon einige wohl selbst die Geduld einer Mutter Teresa auf eine harte Probe gestellt hätten, sondern das System: Lehrplangestaltung, Ziele und Absichten (wo war da der Unterschied?), Bewertungskriterien, Einzelgespräche, Elternberatung, Anforderungsprofile, Prüfungen... Woher sollte man da noch die Zeit zum Unterrichten nehmen?
    Bei einer Lehrerkonferenz Anfang des Jahres war sie aufgestanden und hatte mutig gesagt, was ihr nicht paßte, aber der Schulleiter war auf ihre Kritik kaum eingegangen. Wozu auch? Schließlich hatte er seinen Posten ja gerade deshalb bekommen, weil er mit Begriffen wie Lehrplangestaltung, Bewertungskriterien und dergleichen so routiniert zu jonglieren verstand. Ein ideenreicher junger Mann, der aber, wie man munkelte, während seiner kurzen Phase als Lehrer nicht einmal bei den himmlischen Heerscharen Zucht und Ordnung hätte halten können.
    Julia Stevens lächelte etwas melancholisch, als sie ihr Jobticket aus der Handtasche holte und in einen der roten Oxforder Doppeldeckerbusse stieg.
    Nur gut, daß in der Schule niemand wußte, daß sie heute Geburtstag hatte. Zumindest keiner ihrer Schüler. Bei der Vorstellung, zu Beginn einer Stunde würde die versammelte Klasse plötzlich «Happy Birthday, Mrs. Stevens!» anstimmen, bekam ihr blasses Gesicht mit den hohen Wangenknochen einen Anflug von Röte. Ihr Vertrauen zum Allmächtigen war nicht mehr sehr groß, aber in diesem Moment war ihr fast nach Beten zumute.
    Und Ziel (oder Absicht?) ihres Gebetes müßte es dann wohl zuvörderst sein, sich einen kakophonischen Geburtstagschor ihrer 5C zu ersparen. Ansonsten war die 5C gar nicht so übel, und sie, Julia Stevens, mirabile dictu, gehörte zu den wenigen Kollegen, die mit dieser aufmüpfigen, buntgemischten Schar fertig wurden. Nein, wenn schon gebetet werden mußte, dann für etwas viel, viel Wichtigeres.
    Wichtiger für sie selbst...
    Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Weder im Kollegium noch in den sechs Klassen, in denen sie an diesem Tag unterrichtete, gratulierte ihr jemand.
    Dabei gab es in der 5C einen Schüler, der ganz genau wußte, wann Mrs. Stevens Geburtstag hatte — am gleichen Tag wie er selbst nämlich. Am 25. Mai. War es dieser seltsame Zufall, der ihnen all diesen Ärger eingebrockt hatte?
    Ärger? Allerdings.
    Im Horoskop des letzten Sunday Mirror hatte Kevin Costyn interessiert seinen persönlichen «Schlüssel zum Schicksal» gelesen.
    Zwillinge

    Der einsame Planet steht ganz im Banne der liebreizenden Venus. Jetzt treten erregende Tatsachen an die Stelle falscher Hoffnungen. Ein Maximum an geistiger Energie ermöglicht es Ihnen, den Weg zu einem schwer zugänglichen Menschen zu finden, der Ihnen sehr am Herzen liegt. Nur ruhig Blut!

    «Ein Maximum an geistiger Energie» war nun nicht gerade Kevins Stärke. Aber wenn sich der bewußte schwer zugängliche Mensch nur durch eine derartige Kraftanstrengung erobern ließ, war er bereit, sich ausnahmsweise mal ins Zeug zu legen. Vielleicht klappte das ja besser als die Brutalomasche, mit der er es beim ersten Anlauf probiert hatte. Damals hatte er sich bemüht, einer seiner Lehrerinnen näherzukommen.
    Als er versucht hatte, Julia Stevens zu vergewaltigen.

(II)

    Chaos herrscht’ in der Klasse,
    Die mutig der Lehrer betrat.
    Die Rüpel sich nicht um ihn scherten,
    Sein Zustand ward desolat.
    (Roger McGough, The Lesson)

    Mit seinen (heute) siebzehn Jahren war Kevin Costyn unbestritten der Anführer der vierundzwanzig Schülerinnen und Schüler der Klasse 5C der Proctor Memorial School, East Oxford. Er war vierzehn Monate älter als der Klassendurchschnitt, weil sein Intelligenzquotient — gemessen an den üblichen psychometrischen Kriterien — erheblich unter dem Durchschnitt seines eigenen
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