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Die Leiche am Fluß

Die Leiche am Fluß

Titel: Die Leiche am Fluß
Autoren: Colin Dexter
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Jahrgangs lag.
    Früher war in Kevins Zeugnissen noch mit verhaltenem Optimismus davon die Rede gewesen, mit Fortschritten sei zu rechnen, falls er sich entschlösse, seine brachliegenden geistigen Fähigkeiten zu aktivieren. Doch schon vor vielen Trimestern hatten seine Lehrer jede Hoffnung aufgegeben, ihn zu nennenswerten schulischen Leistungen animieren zu können.
    Trotz — oder vielleicht gerade wegen — dieser intellektuellen Defizite stellte Kevin einen erheblichen Machtfaktor und eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dar, und wenn es einen Schüler gab, der es fertigbrachte, seine Lehrer in den Ruhestand, in die Kündigung, ja sogar in den Selbstmord zu treiben, so war dies Kevin Costyn, der sich in der Schule ebenso bösartig und gewalttätig aufführte wie auf der Straße. Im laufenden Sommertrimester hatte er sich nur für die alljährlich stattfindenden Wahlübungen in der Schule interessiert, die den Parlamentswahlen nachempfunden waren und bei denen er sich als Kandidat der British National Party profiliert hatte.
    Die Lehrer zitterten, wenn er im Klassenzimmer saß, und priesen das Schicksal, wenn er (angeblich) krank war, schwänzte, als Zeuge zu einer Gerichtsverhandlung oder zwecks neuerlicher Verwarnung zur Polizei bestellt war oder einen Termin bei Bewährungshelfern, Sozialarbeitern oder Psychiatern hatte. Im Unterricht störte er nur dann nicht, wenn nächtliche Ausschweifungen seine subversiven Neigungen etwas gebremst hatten.
    Sein Stammplatz war in der ersten Reihe, rechts vom Mittelgang. Das hatte drei gute Gründe. Erstens konnte er sich dort leicht umdrehen, um eventuelle Krawallaktionen zu dirigieren. Zweitens war er (was er nie zugegeben hätte) ein bißchen schwerhörig; der Unterricht selbst interessierte ihn zwar nicht, aber seine verbale Schlagfertigkeit gegenüber den Lehrkräften litt deutlich, sobald er seinen Kontrahenten akustisch nicht mehr folgen konnte. Drittens war die von der Natur recht großzügig ausgestattete Eloise Dring wegen ihrer Kurzsichtigkeit (und weil sie sich weigerte, eine Brille zu tragen) darauf angewiesen, der Tafel so nah wie möglich zu sein. Eloise — das attraktivste Mädchen in der Klasse — saß also in der vordersten Reihe. Und Kevin Costyn wollte ganz nah bei Eloise sitzen.
    Da saß er also und wußte nicht, wo er in dem viel zu kleinen Pult die langen Beine lassen sollte. Seine Füße steckten in abgewetzten Tretern, die er von einem verflossenen Freund seiner Mutter geerbt hatte. Diese, eine schlampig-üppige Alleinerziehende, hatte ihren einzigen Sohn auf einem Rastplatz an der Cowley Ring Road empfangen (unter Begleitumständen, an die sie sich nur noch dunkel erinnerte) und wohnte in einer Sozialsiedlung, die bei den finanziell bessergestellten Bewohnern der angrenzenden Straßen nur Nuttendorf hieß.
    Kevin war ein schlaksiger, grobknochiger junger Mann mit langen dunklen, ungewaschenen Haaren und ziemlich dürftigem Bartwuchs auf Oberlippe und Kinn. An diesem Tag trug er ein gebatiktes T-Shirt und zerschlissene Jeans. Sein mürrisches, langgezogenes Gesicht sah aus wie von einem magenkranken El Greco gemalt, und auf dem linken Unterarm hatte er eine Tätowierung, die an diesem kühlen Tag vom Ärmel eines angeschmuddelten weißen Sweatshirts verdeckt wurde. In der Schule kannte praktisch jeder diese Tätowierung, einschließlich des Schulleiters, der im vergangenen Trimester in einem seltenen Anflug von Mut Costyn zu sich zitiert und nach dem tieferen Sinn dieser Epidermisdekoration gefragt hatte. Und Kevin war in der glücklichen Lage gewesen, ihm zu erklären, wie der eindeutige Spruch «Fuck ‘em All!» im allgemeinen von der Öffentlichkeit (mit und ohne Hochschulabschluß) interpretiert wurde.
    So jedenfalls gab Kevin später das Gespräch wieder.
    Sein Ansehen war in letzter Zeit in geradezu schwindelerregende Höhen gestiegen, was angesichts zweier Aufenthalte in einer Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter nicht verwunderlich war. Hinzu kamen zwei weitere Aspekte, die seine Macht und seinen Einfluß mehrten. Erstens ging von ihm eine Aura primitiver, aber offenbar unwiderstehlicher Sexualität aus, die viele Mädchen magnetisch anzog. Zweitens besuchte er seit seinem zwölften Lebensjahr den Kampfsportkurs eines kleinen Chinesen, von dem die Fama ging, er habe ohne fremde Hilfe eine Street-Gang so lange bearbeitet, bis sie, auf dem Gehsteig liegend, um Gnade gefleht hätten. Kevin konnte dank der dort erworbenen
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