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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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Verfassen der Briefe zur Seite stand. Józef schien sie nicht um Hilfe bitten zu wollen, und in ihren Briefen kam ihr älterer Bruder nur vor, wenn er wieder einmal im Krankenhaus war. Gesundheitlich war Józef Anfang der achtziger Jahre bereits schwer angeschlagen. Er hatte Krebs, die gleiche Krankheit, an der sein Vater gelitten hatte, und musste im Krankenhaus von Guttentag am Magen und an der Leber operiert werden. Auch diese Passagen las meine Mutter vor, doch ich stellte damals keine Verbindung her zwischen Annas krankem Bruder und jenem Józef Koźlik, den ich aus den Geschichten meines Vaters kannte. Ich fragte mich lange nicht einmal, warum wir überhaupt Post aus Polen bekamen.

 
    |208| J ózefs Lebenslauf hatte immer noch Lücken. Zum Beispiel hatte ich nie herausgefunden, was er in jenem Jahr nach der Trennung von Marianne in Deutschland eigentlich genau gemacht hatte, bevor er schließlich im Dezember 1949 mit einem der letzten Züge der Militärmission nach Polen zurückkehrte. Auch die Zeit zwischen seiner Entlassung aus dem Gefängnis in Breslau und den ersten Briefen, die er Anfang der siebziger Jahre mit meinem Vater wechselte, lag im Dunkeln. Dazu kamen die frei erfundenen Geschichten, die er über sich selbst in Umlauf gebracht hatte, und selbst wenn es mir in vielen Fällen gelungen war, mit Hilfe einiger verstaubter Akten aus den Archiven der Wehrmacht, des britischen Verteidigungsministeriums und des polnischen Sicherheitsdienstes Wahrheit und Lüge zu trennen, so konnte ich über die Gründe, die Józef dazu gebracht hatten, seine Biographie abzuändern, nur Mutmaßungen anstellen. Mehr würde ich nicht erfahren; die meisten Menschen, die ihn gekannt hatten, waren mittlerweile tot, Marianne und Maria Dej, Alois Gambusch, seine Schwestern Hilda und Lena, Heinrich Schulenberg und die ehemaligen Angehörigen der Kompanie, mit der er in Fürstenau stationiert gewesen war. Nach fast zehn Jahren, in denen ich mich mit meinem polnischen Großvater beschäftigt hatte, waren meine Recherchen an ein Ende gekommen.
    |209| Anfang September fuhr ich für ein Wochenende zu meinen Eltern. Im Gepäck hatte ich die Zigarrenkiste mit den Briefen, die ich meinem Vater zurückgeben wollte, und einen Ausdruck der Datei, in der ich in Stichworten alles zusammengetragen hatte, was ich über Józef herausgefunden hatte. Wir saßen auf der Terrasse, die Hauswand in unserem Rücken war noch warm vom Sommer, und aßen den Pflaumenkuchen, den meine Mutter gebacken hatte. Erst am späten Nachmittag, als die Sonne bereits tief über den Dächern der Nachbarhäuser stand und kühle Luft von den Wiesen hinter der Siedlung in den Garten zog, gingen wir ins Wohnzimmer. Hier stand der runde, viel zu niedrige Tisch, der noch aus Arnolds Werkstatt stammte und an dessen geschwungenen Beinen man sich immer die Knie stieß. Ich baute mein Mikrofon und das Aufnahmegerät auf, um ein letztes Mal mit meinem Vater über Józef zu sprechen.
    Meine Eltern lebten schon lange nicht mehr am Rand des Moors, wo ich die ersten Jahre meiner Kindheit verbracht hatte. Inzwischen besaßen sie ein Einfamilienhaus mit wärmegedämmten Wänden, dreifach verglasten Fenstern und strahlend roten Dachziegeln. Alles war neu, doch überall in den weiß getünchten Zimmern fanden sich Überreste aus der Kindheit meines Vaters. Die Vitrine im Wohnzimmer stammte genau wie der runde Tisch aus Fürstenau, der hohe Bücherschrank mit der Glastür, der in seinem Arbeitszimmer stand, war ebenfalls von Arnold angefertigt worden, und auch die Bauerntruhe im Esszimmer, in der meine Mutter die Tischdecken aus Annas Aussteuer aufbewahrte. Es handelte sich um Teile der Erbmasse, die in den siebziger Jahren nach dem Ende des Streits zwischen Marianne und |210| ihrer Schwester unter der Aufsicht von Richtern und Anwälten zwischen den Verwandten aufgeteilt worden war.
    Vielleicht hatten die wuchtigen Eichenmöbel mit ihrem barock anmutenden Schnitzwerk sogar einen gewissen Wert. Das schwere Besteck mit den riesigen Tortenhebern und gewaltigen Schöpfkellen, das die meiste Zeit über unbenutzt in den Schubladen der Einbauküche lag und nur zu Weihnachten hervorgeholt wurde, war immerhin aus Silber. Doch mein Vater bewahrte auch Annas unhandlichen Dampfentsafter mit dem porösen Gummischlauch auf, der im Abstellraum neben der Küche meiner Eltern zusammen mit einem Satz Einmachgläser verstaubte, und in der Garage, wo er sein Werkzeug hatte, lagen zerbrochene Zollstöcke
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