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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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wurde gegen eine Tüte Zucker aus einem Kombinat in Leipzig getauscht; für zwei Kilo Schweinefett aus einer Genossenschaft in Masuren konnte man einen funktionstüchtigen Radioapparat aus deutscher Produktion bekommen. Auch ein Teil des Zements, den Józef und Piotr in Tschenstochau zur Seite geschafft hatten, war über die Grenze gewandert. Piotr behauptete sogar, dass er dabei gewesen sei, als ein Güterzug, der in Richtung DDR unterwegs war, in einem Waldstück kurz vor Frankfurt an der Oder anhielt und eine Waggonladung Stahlplatten aus einem Walzwerk in Kattowitz für ein Bündel Dollarscheine den Besitzer wechselte. Auch Menschen überquerten die Grenze, und Józef und Piotr begannen, einen Fluchtplan zu schmieden. Es war nur eine Art Spiel gewesen, um sich die Zeit zu vertreiben, wenn sie sich hinter einem Bauwagen vor den Blicken des Vorarbeiters versteckten und sich eine Flasche teilten. Es ging um die Frage, wie man aus Polen herauskommen könnte.
    Piotr hatte sich umgehört. In Zgorzelec war die Neiße an manchen Stellen nicht einmal zehn Meter breit, und im Herbst, wenn des Nachts dichter Nebel über der Böschung |202| lag, waren die Chancen gut, unbemerkt die Grenze zu überqueren. Von Görlitz aus musste man dann nur noch nach Berlin gelangen und weiter in den Westteil der Stadt, und damit war man so gut wie auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs angelangt. Piotr war sich sicher, dass es zu schaffen war. Ein Kollege, der mit einer Sekretärin in der Zentrale des Bauunternehmens in Tschenstochau verlobt war, könnte gegen entsprechende Bezahlung dafür sorgen, dass sie ganz offiziell für ein paar Tage auf eine Baustelle nach Zgorzelec geschickt würden. Dort würden sich schnell die nötigen Kontakte finden. Es war nur eine Plauderei unter Kollegen, aber manchmal, wenn sie ihren Plan wieder einmal durchgegangen waren, begann Józef tatsächlich darüber nachzudenken, wie es wäre, zurück nach Fürstenau zu gehen und es noch einmal mit Marianne zu versuchen.
    Dann flog der illegale Zementhandel auf. Piotr und Józef verloren ihre Arbeit. Józef lernte Maria Dej kennen, und erst als sie ihn aus der Wohnung wirft und er zurück nach Lublinitz kommt, denkt er wieder an den Plan, den er mit Piotr entworfen hat. Zwei Jahre vergehen, dann beschließt er, es zu versuchen.
    Es ist eine kurze Geschichte, dokumentiert auf ein paar Seiten ganz am Schluss seiner Akte und eingebettet in die Ereignisse des Jahres 1956. Damals gelangen Nachrichten über eine Kursänderung in Moskau nach Polen. Es heißt, dass der neue Parteichef Nikita Chruschtschow nach Stalins Tod mit dem Kurs seines Vorgängers gebrochen habe. Im Sommer 1956 gehen in Posen Arbeiter und Studenten auf die Straße und verlangen Änderungen im eigenen Land. Die Armee schreitet ein, doch der Protest weitet sich aus. Im Oktober wird Władysław Gomułka in Warschau zum Ersten |203| Sekretär der polnischen Arbeiterpartei gewählt und kündigt Reformen an, weniger Planvorgaben in der Industrie, mehr Privatwirtschaft, keine weiteren Zwangskollektivierungen auf dem Land. Auch die Reisebeschränkungen sollen gelockert werden, und in der Kneipe der Genossenschaft erzählt jemand, dass man kein Visum mehr benötige, um in die DDR einzureisen.
    Am 13. November 1956 kauft Józef sich eine Bahnfahrkarte und fährt über Oppeln, Breslau und Liegnitz nach Zgorzelec. Es ist der letzte Versuch, doch noch zu jenem tragischen Helden zu werden, zu dem er sich in seinen Geschichten immer wieder selbst gemacht hatte. Józef hat nicht viel bei sich, nur ein paar Hundert
złoty
, die ihm von seinem letzten Lohn geblieben sind, und das Foto, das Maria in Schoppinitz in seiner Manteltasche gefunden hatte.
    Die Neuigkeiten erfährt er bereits am Bahnhof von einem Zigarettenverkäufer. In der DDR hatte man die Aufbruchstimmung in Polen mit Misstrauen beobachtet, und die Grenzübergänge, die im Oktober tatsächlich für ein paar Tage offen gewesen waren, sind längst wieder geschlossen. Józef verbringt ein paar Stunden am Bahnhof, trinkt, raucht und wartet. Als es dunkel wird, macht er sich auf den Weg. Er schlendert hinunter zur Neiße, wirft einen Blick auf die Brücke, auf den Schlagbaum, den Stacheldraht und die bewaffneten Posten auf beiden Seiten. Dann läuft er den Fluss entlang, nach Norden aus der Stadt hinaus.
    Als er die Häuser hinter sich gelassen hat, geht er hinab zum Ufer und setzt den ersten Fuß ins Wasser. Es ist kälter, als er gedacht hat. Dann ruft
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