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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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nicht schwanger wird. Die Hebamme, die im Kreißsaal des Krankenhauses von Schoppinitz Tag und Nacht hilft, die Kinder anderer Frauen zur Welt zu bringen, ist ungeduldig. Sie will selbst Mutter werden, und als es auch ein halbes Jahr nach der Hochzeit noch immer nicht so weit ist, kippt die Stimmung in der kleinen Wohnung. Maria macht Józef Vorwürfe. Wenn er nach der Arbeit nach Wodka riecht, sagt sie, dass der Alkohol schuld daran sei, dass sie keine Kinder bekämen. Ihre Mutter mischt sich ein. Józef wirft immer häufiger die Tür hinter sich zu und |199| verbringt den Abend in einer Kneipe. Manchmal kommt er die ganze Nacht nicht nach Hause.
    Der Streit wird von Mal zu Mal schlimmer. Maria ist eifersüchtig. Sie verdächtigt Józef, sich mit einer anderen Frau zu treffen. Als er eines Nachts wieder einmal wütend aus der Wohnung läuft und seinen Mantel an der Garderobe vergisst, durchsucht sie seine Taschen. Es ist der alte Mantel, den er 1949 aus Deutschland mitgebracht hat, seine Schwester Anna hat ihn seitdem immer wieder geflickt, und Józef hat ihn auch jetzt wieder den ganzen Winter über getragen. Maria findet nichts außer einer halben Packung Zigaretten, Streichhölzern und alten Straßenbahnfahrscheinen. Dann, als sie den Mantel wieder zurück an die Garderobe hängen will, spürt sie etwas unter dem Stoff. Sie fasst in die rechte Innentasche, in der das Futter ausgerissen ist, tastet und zieht ein zerknittertes Foto hervor. Es ist die Porträtaufnahme einer jungen Frau. »Für immer Dein«, steht auf Deutsch auf der Rückseite, zusammen mit einem Namen und einem Datum: »Marianne, 12. September 1945«.
    Józef hat Maria nichts von Marianne erzählt, und als sie ihm am frühen Morgen das Foto zeigt, ist er zu müde, zu verfroren und zu betrunken, um sich eine Lüge auszudenken. Er erzählt ihr die ganze Geschichte, von der Verlobung und auch von dem Sohn, den er in Deutschland zurückgelassen hat. Er wankt zum Küchenschrank, um aus einer Mappe, in der er Dokumente aufbewahrt, ein weiteres Foto hervorzuholen, das er zwischen den alten Schulzeugnissen aus Siemianowitz versteckt hat. Es ist das Bild, das Marianne, ihn und ihren Sohn auf der Parkbank in Fürstenau zeigt. »Das ist er«, sagt Józef zu Maria. »An mir liegt es nicht, dass du nicht schwanger wirst.«
    |200| Vier Wochen vergehen, dann ist es vorbei. Die Frau in Deutschland, das ist schlimm genug, aber über das Kind, das sie sich selbst wünscht, kommt Maria nicht hinweg. Eines Abends, als Józef von der Arbeit heimkehrt, steht eine Tasche mit seinen Sachen vor der Wohnungstür, zusammen mit einem kurzen Brief. Maria verlangt die Scheidung. Er willigt ein. Verheiratet waren sie nicht einmal ein halbes Jahr.
    Józef zieht zurück nach Steblau, und die Geschichte seines Lebens, die er in der Genossenschaftskneipe jeden Abend aufs Neue erzählt, hat eine weitere Wendung bekommen. Das sei sein Schicksal, erklärt er den anderen, die neben ihm an der Theke sitzen, die Zeit in Fürstenau hole ihn immer wieder ein. Am nächsten Morgen, wenn er mit schwerem Kopf bei seiner Mutter in der Küche sitzt und die erste Zigarette raucht, stellt er sich vor, wie es wäre, nach Deutschland zurückzugehen.
     
    In Tschenstochau hatte er im Jahr zuvor zum ersten Mal über Flucht nachgedacht, zusammen mit seinem Kollegen Piotr, mit dem er den Zement beiseitegeschafft hatte. Der beste Ort, darin waren sie sich einig, war Zgorzelec, der polnische Teil von Görlitz. Die Stadt war nach dem Krieg, als die Glatzer Neiße zum Grenzfluss geworden war, geteilt worden. Die Brücken wurden gesprengt, und es gab seitdem nur einen provisorischen Holzsteg, der Zgorzelec und Görlitz verband, jedoch nie zu einem Zollposten ausgebaut worden war.
    Die Grenze zwischen Polen und Deutschland war bereits im Winter 1945 auf 1946 für die Mehrzahl der Bürger geschlossen worden. Wer von Polen in die sowjetische Besatzungszone |201| und später in die DDR reisen wollte, benötigte einen Pass und ein Visum, und beides bekamen nur die Angehörigen offizieller Delegationen, Politiker, Gewerkschaftsfunktionäre, Journalisten, gelegentlich ein Sportler. Trotzdem war die Grenze durchlässig für Schmuggelgüter. Polnische Fischer, ostdeutsche Eisenbahner und sowjetische Soldaten schafften tonnenweise Waren in beide Richtungen über Oder und Neiße.
    Auf beiden Seiten wurde das Hinterland der Grenze zu einem Umschlagplatz für Güter aller Art. Ein Sack Kartoffeln von einem Feld in Strelno
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