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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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nächsten Monaten zieht Józef von einer Baustelle zur nächsten. In Tichau, Bendzin, Kattowitz, überall in Oberschlesien werden Siedlungen, Fabriken und Kraftwerke gebaut. Er übernachtet in billigen Pensionen, in Turnhallen, die in provisorische Schlafsäle verwandelt worden sind, und in notdürftig hergerichteten Rohbauten mit vernagelten Fenstern.
    In Kattowitz trifft er Piotr wieder. Im Sommer 1954 lässt er sich von ihm überreden, ihn an einem Freitagabend nach der Arbeit zu einer Tanzveranstaltung in Georgenberg zu begleiten, einer ehemaligen Bergarbeiterstadt nicht weit von Lublinitz, die seit dem Ende des Krieges Miasteczko Śląskie heißt. Piotr ist mit seiner Verlobten verabredet, die eine Freundin mitbringt, die Hebamme Maria Dej. Józef tanzt mit ihr, und es ist einer der ersten Abende seit langem, an dem er um Mitternacht nicht völlig betrunken ist. Am nächsten Wochenende sehen Maria und er sich wieder.
    Maria Dej wurde 1930 in Georgenberg geboren. Ihr Vater war Beamter und führte die Stadtkasse im Rathaus. Er starb vor Ausbruch des Krieges, und Maria lebt seitdem allein mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung in der
ulica Jana Matejki.
Sie geht Filipina Szajerowa zur Hand, der Hebamme, die sie selbst zur Welt gebracht hat, und eines Tages würde sie ihre Arbeit ganz übernehmen. Doch Maria hat andere Pläne.
    Im neunzehnten Jahrhundert war Georgenberg eine reiche Stadt. Jetzt ist die Eisenerzproduktion zum Erliegen gekommen, und in den fünfziger Jahren gibt es hier nicht mehr als eine Ziegelei, einen Steinbruch und jede Menge |197| Staub. Maria ist vierundzwanzig Jahre alt und will so schnell wie möglich fort aus ihrer Heimatstadt. Sie hat bereits eine Stellung in einem großen Krankenhaus in Kattowitz in Aussicht. Als sie Józef Koźlik kennenlernt, einen Junggesellen, der ein wenig älter ist als sie, mit den rauen Händen eines Mannes, der viel arbeitet, ist es für sie nicht die große Liebe, sondern eine Chance.
    Auch Józef macht sich keine Illusionen. Er ist jetzt neunundzwanzig, die Hälfte der Zeit nach seiner Rückkehr hat er im Gefängnis verbracht. Er schläft auf der harten Holzbank in der Küche seiner Mutter oder auf einem durchgesessenen Sofa bei einem seiner Trinkgefährten. Seine drei jüngeren Schwestern sind mittlerweile alle verheiratet. Hilda ist mit ihrem Mann nach Kattowitz gezogen. Sie und Anna haben bereits Kinder. Er dagegen hat nichts als die verblassten Erinnerungen an eine Frau und einen Sohn, die er fünf Jahre zuvor in Deutschland zurückgelassen hat. Die große Liebe hat er bereits hinter sich, und bei ihrem dritten Treffen macht er Maria kurzerhand einen Heiratsantrag. »Ich dachte, dass ich glücklich sein würde«, sollte er später an meinen Vater schreiben.
    Die Hochzeit findet am 4. September 1954 in Georgenberg statt, an einem warmen Spätsommertag. Es gibt eine kleine Feier. Im Garten hinter dem Haus, in dem Maria mit ihrer Mutter wohnt, wird ein Erinnerungsbild im Kreis der Verwandten gemacht, Maria lachend zwischen Józef und ihrer Schwiegermutter. Im Herbst ziehen sie nach Schoppinitz, einer Stadt, die im Süden an Kattowitz grenzt und Józef mit ihren Hütten und Walzwerken und dem ständigen Lärm an Siemianowitz erinnert. Das junge Paar hat eine kleine Wohnung in einem Mietshaus zugeteilt bekommen. |198| Sie haben nur zwei Zimmer, und in einem davon schläft Marias Mutter, die nicht allein in Georgenberg zurückbleiben wollte. Vielleicht hätte es funktioniert. Wenn die Sache mit dem Foto nicht passiert wäre.
    Es gibt einen Alltag. Józef hat sich Arbeit auf einer Baustelle in Kattowitz gesucht. Jeden Morgen um halb sechs verlässt er das Haus und geht zum Bahnhof. Maria kehrt um diese Zeit gerade von der Nachtschicht nach Hause zurück, und manchmal schaffen sie es sogar, noch eine Tasse Kaffee zusammen zu trinken. Wenn Maria Frühschicht im Krankenhaus hat, haben sie fast zur gleichen Zeit Feierabend. Dann machen sie nach dem Abendessen einen Spaziergang und schauen von der Fußgängerbrücke, die über eine der neuen Schnellstraßen führt, zu den drei hohen Schornsteinen der Zinkhütte hinüber, aus denen Funken in den Abendhimmel sprühen. Am Wochenende nehmen sie den Zug und fahren raus aus der Stadt ins Grüne, an einen See, wo man Boote ausleihen kann.
    Józef findet Gefallen an dem Leben als verheirateter Mann. Er trinkt weniger als früher, nur ein paar Schluck bei der Arbeit, um sich warm zu halten. Das einzige Problem ist, dass Maria
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