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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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Vaters.
    Die Kommentare und Reportagen, die mein Vater im Radio verfolgte, zeichneten ein flirrendes, hektisches Bild der Welt, das sich Tag für Tag, manchmal sogar von Stunde zu Stunde veränderte. Er selbst schien das beruhigend zu finden. Nach dem Mittagessen blieb er in der Küche sitzen und blätterte bei einer Tasse Kaffee in den Zeitungen. Artikel, die er nicht gleich las, legte er beiseite. Am Sonntagnachmittag, wenn schlechtes Wetter war, sah mein Vater den Stapel im Wohnzimmer durch und las Berichte über Aufstände, Krisen und Kriege, über Gipfeltreffen und Regierungskoalitionen. Er wirkte wie ein Kind, das tief in ein Spiel versunken war, wenn er auf dem Fußboden hockte, um sich herum Zeitungsausschnitte, die er mit Anmerkungen und Unterstreichungen versah, in Mappen und Ordner legte und in seinem Arbeitszimmer in die Regale einsortierte. Der Regen klatschte an die Fensterscheiben, die alten Heizungsrohre in unserem Haus rauschten, und das Papier raschelte |217| auf der harten, borstigen Auslegware, die uns die Vormieter überlassen hatten. Sie kratzte unter meinen bloßen Füßen, wenn ich abends nach dem Baden noch einmal in das Wohnzimmer kam, um gute Nacht zu sagen. Mein Vater saß dann bereits vor dem Fernseher und wartete darauf, dass die Tagesschau begann.
    Manchmal schnappte ich einzelne Wörter aus den Nachrichten auf, die einen gefährlichen Klang hatten, Boykott, Ultimatum, Doppelbeschluss. Als ich mich mit dem Leben meines Großvaters zu beschäftigen begann, war das alles längst Vergangenheit. Ich las in alten Zeitungsartikeln von einer Welt, die in den siebziger Jahren in Lager und Blöcke zerfallen war. Ausgerechnet in dieser zerklüfteten Landschaft waren mein Vater und Józef sich nähergekommen.
    Mein Vater hatte die gleichen Träume wie viele seiner Altersgenossen in der Bundesrepublik gehabt. Gegenüber Józef erwähnte er sie zum ersten Mal kurz nach der Fußballweltmeisterschaft im Jahre 1974. Am 3. Juli stand Polen in Frankfurt am Main im Viertelfinale gegen die Bundesrepublik. Die Partie fand unter schwierigen Bedingungen statt. Der Rasen war durch tagelangen Regen aufgeweicht worden, und die Begegnung, die später als »Wasserschlacht von Frankfurt« bezeichnet werden sollte, endete mit einem knappen eins zu null für die Bundesrepublik.
    Das Spiel hätte verlegt werden müssen, beklagte sich Józef kurz darauf in einem Brief an meinen Vater, aber vermutlich hätte die polnische Mannschaft auch ohne Regen keine Chance gehabt. Der österreichische Schiedsrichter habe von Anfang an auf der Seite der Westdeutschen gestanden. Es seien verrückte Zeiten, schrieb er mit Blick auf die Partie, und fuhr fort, nicht nur Deutschland, die ganze Welt |218| sei in zwei Hälften zerfallen: »Ich würde gern mehr über Deine politischen Ansichten wissen.«
    Diesmal ließ mein Vater sich nicht lange bitten. Er muss in seiner Antwort Alexander Dubček erwähnt haben, den tschechoslowakischen Parteisekretär, der sich 1968 in seiner Heimat für Reformen eingesetzt hatte. Der sogenannte Prager Frühling war nach wenigen Monaten durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes beendet worden. Dubček wurde abgesetzt, aber mit seinem Namen verbanden sich von nun an auch im Westen die Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.
    Mein Vater war Mitglied bei den Jusos, der Jugendorganisation der SPD. Er bewunderte Willy Brandt, der Anfang der siebziger Jahre eine neue, aufgeschlossene Politik gegenüber dem Ostblock in Gang gesetzt hatte, und wenn er in den Briefen, die er an Józef schrieb, von einem »demokratischen Sozialismus« schwärmte, dann fielen auch die anderen Schlagwörter der Zeit, »Politik der kleinen Schritte« oder »Wandel durch Annäherung«. Mein Vater hatte während seines Studiums an den Protesten gegen den Vietnamkrieg teilgenommen, er interessierte sich für die Situation in den Ländern der Dritten Welt, und neben Alexander Dubček erwähnte er gegenüber Józef wohl auch Salvador Allende, den Marxisten, der 1970 in freien Wahlen zum Präsidenten von Chile gewählt worden war. Nach seiner Ermordung im Jahre 1973 war er für all jene zu einem Märtyrer geworden, die daran glaubten, dass der Sozialismus eines Tages mit friedlichen Mitteln siegen werde.
    Auch Józef Koźlik hörte Radio, genau wie mein Vater. Über Mittelwelle und Kurzwelle verfolgte er die Nachrichten von
Radio Free Europe
, dem
World Service
der BBC und |219| der Deutschen Welle. Den
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