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Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Titel: Die leere Wiege: Roman (German Edition)
Autoren: Ruth Dugdall
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nicht.
    Ich stehe am Fenster und sehe den Möwen zu. Ich wüsste gern, wo sie ihre Nester bauen. Ich möchte beobachten, wie sie für ihre Jungen sorgen. Am liebsten hätte ich selbst ein Vogelküken. Oder wieder ein Baby. Diesmal ein Mädchen, eines, das in einer rosa Babywippe mit gelben Sternen sitzt.
    Ich halte das Amselnest in den Händen. Mein kostbares Amselnest. Die Zweige sind inzwischen alt und brüchig geworden, aber sie sind noch immer zu einem perfekten kleinen Zuhause verflochten.
    Rita und Mum suchen mich jetzt häufig auf. Sie erzählen mir von dem neuen Baby, dem kleinen Mädchen. Ich weiß, dass es von dir ist, Jason, aber bald wird es mir gehören, denn wie eine Elster stehle ich die Küken aus fremden Nestern. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Sie kommen vom Warten und Auf-die-Uhr-Sehen.
    Ich muss unbedingt freigelassen werden. Denn dann werde ich losfliegen und ein kleines Nest für mich suchen.
    Vor einer Weile hat Nathalie Reynolds mir eine selbst gebastelte Karte unter der Zellentür durchgeschoben. »Alles Gute« stand über einer schwarzen Katze, die sie aus Strass und Pfeifenreinigern gebastelt hat. Seltsam, dass schwarze Katzen als Glücksbringer gelten. Warum ausgerechnet diese raffinierten, unnahbaren Tiere? Es gab eine Zeit, in der ich auch wie eine Katze war und schwarz gekleidet durch Emmas Haus strich. Katzen können mehr als ein Zuhause haben. Überall lassen sie sich füttern, und jeder denkt, die Katze gehöre ihm, obwohl jeder in Wahrheit der Katze gehört.
    Ich liege auf meiner Pritsche, starre an die Decke und versuche, Formen zu erkennen, so wie freie Menschen versuchen, Wolkenbilder zu entdecken. Alle Mauern haben Flecke, Ritzen und Löcher. Wenn man die Augen ein wenig zusammenkneift, werden daraus die hübschesten Dinge. Inzwischen ist die Mittagszeit vorbei, und ich werde schläfrig. Ich möchte die Zeit verträumen, ehe ich die Nachricht bekomme.
    Draußen nähern sich schwere Stiefelschritte und halten vor meiner Zelle inne. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Ich bekomme Besuch.
    Die Tür schwingt auf. Officer Burgess steht vor mir und schaut mich an. Auf seinem bleichen Gesicht treten die Pickel deutlich hervor, außerdem hat er Ringe unter den Augen. Dabei ist er noch viel zu jung, um so angegriffen – so besiegt – auszusehen. Aber wie kommt so ein Milchbubi auch dazu, in einem Gefängnis zu arbeiten?
    »Na dann, Wilks.«
    Er schaut mir nie in die Augen. Ich mache ihn nervös. Auch meine Zellentür würde er nie ohne Grund aufschließen.
    »Zieh dir Schuhe an. Wir machen einen Spaziergang.«
    »Wohin?«
    »Zu Governor Wright.«
    Nach diesem Moment habe ich mich gesehnt und mich gleichzeitig davor gefürchtet. Ich schließe kurz die Augen, falte die Hände wie zum Gebet und hoffe auf meine Freiheit.
     
    —
     
    Ich folge Burgess über die Flure zum Verwaltungsblock und versuche ruhig zu atmen, denn ich weiß, gleich werde ich über mein Schicksal informiert.
    Das Büro des Direktors ist riesig und wird von einem schweren Schreibtisch beherrscht. Auf dem Tisch liegt eine lederne Schreibunterlage, daneben stehen ein Holzbecher mit Stiften und das Foto einer lächelnden Frau mit dunkelrot geschminkten Lippen. Hinter dem Schreibtisch thront auf einem Sessel die massige Gestalt des Direktors – ein König, der seine Lakaien empfängt. In meiner Magengrube breitet sich ein ängstliches Kribbeln aus, und er allein hat die Macht, es abzustellen.
    Burgess schluckt nervös und sagt: »Ich bringe Ihnen die Gefangene Wilks, Sir.«
    Er versetzt mir einen Stoß. Mit gesenktem Kopf trete ich an den Schreibtisch.
    »Danke, Burgess. Sind Sie ihr Betreuer?«
    »Nein, Sir, das ist Officer Callahan. Er hat in dieser Woche aber Spätschicht, Sir.«
    Governor Wright mustert mich von Kopf bis Fuß und ist sichtlich gelangweilt. »Wissen Sie, warum Sie hier sind, Wilks?«
    »Es geht um den Beschluss der Bewährungskommission.«
    »Richtig.« Er greift nach einem Dokument.
    Ich recke den Hals, aber es ist zu weit entfernt, als dass ich die Zeilen lesen könnte. Wright betrachtet das Stück Papier, als sähe er es zum ersten Mal. Dann beginnt er zu lesen, langsam, als hätte er alle Zeit der Welt. Als er den Kopf hebt, umspielt ein Lächeln seine Lippen.
    »Tja, Wilks, Pech gehabt. Die Kommission hat gegen Sie entschieden.«
    Wie war das noch? Das kann nicht sein, da muss irgendein Irrtum vorliegen.
    »Was sagen Sie da?«
    »Haben Sie mich nicht verstanden?«
    »Doch … aber das
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