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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve
Autoren: Jo Nesbø
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Brust genommen.
    »Rechtzeitig?«, hatte der ihn angebrüllt. »Sie hatten nicht einen Passagier mit einem connecting flight !«
    »Aber wir sind doch die pünktlichste Fluggesellschaft der Welt«, hatte Tord Schultz es mit dem Werbeslogan versucht.
    »Ja, aber auch die wirtschaftlich angeschlagenste! Ist das Ihre einzige Erklärung?«
    Tord Schultz hatte nur mit den Schultern gezuckt. Die wahren Gründe konnte er ihm ja nicht nennen, oder sollte er etwa zugeben, dass er aufs Gaspedal gedrückt hatte, weil er selbst rechtzeitig vor Ort sein musste, um seinen nächsten Flug zu erreichen? Nach Bergen, Trondheim oder Stavanger. Dass es von essentieller Bedeutung war, dass er und nicht einer seiner Kollegen diesen Flug übernahm.
    Nach all den Dienstjahren konnten sie nicht mehr tun, als ihm eine Rüge zu erteilen, das wusste Tord Schultz. Ihm waren keine schweren Fehler unterlaufen, die Gewerkschaft stand hinter ihm, und in ein paar Jahren würde er the two fives erreicht haben, fünfundfünfzig, und so oder so pensioniert werden. Tord Schultz seufzte. Es blieben ihm nur noch wenige Jahre, um alles geradezubiegen, wollte er nicht als der wirtschaftlich angeschlagenste Pilot enden.
    Er unterzeichnete das Logbuch, stand auf und verließ das Cockpit, um den Passagieren die perlweißen Zähne in dem sonnengebräunten Pilotengesicht zu zeigen. Das Lächeln, das ihnen signalisieren sollte, dass er die Sicherheit in Person war. Der Pilot. Früher hatte sein Beruf in den Augen der anderen mehr Prestige besessen. Frauen und Männer, Kinder und Alte hatten anerkennend zu ihm aufgesehen und das Charisma entdeckt, den nonchalanten, jugendlichen Charme, aber auch die kühle Präzision und Entschlossenheit des Flugkapitäns. Seine überlegene Intelligenz und den unbändigen Mut desjenigen, der sich den Gesetzen der Schwerkraft und den allen Menschen angeborenen Ängsten widersetzte. Aber das war lange her. Heute war er kaum mehr als der Busfahrer, der er im Grunde war und den man fragen konnte, was das billigste Ticket nach Las Palmas kostete oder warum man bei der Lufthansa mehr Beinfreiheit hatte.
    Zum Teufel mit den Passagieren. Zum Teufel mit allen!
    Tord Schultz stellte sich am Ausgang neben die Stewardess, richtete sich auf, lächelte und sagte in dem breiten Texas-Amerikanisch, das sie auf der Flugschule in Sheppard gelernt hatten: »Welcome back, Miss.« Er erntete ein anerkennendes Lächeln. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der ein solches Lächeln schon beinahe so etwas wie eine Verabredung in der Abflughalle gewesen war. Verabredungen, die er nur zu gerne wahrgenommen hatte. Von Kapstadt bis Alta. Frauen. Das war immer sein Problem gewesen. Und seine Lösung. Frauen. Viele Frauen. Andere Frauen. Und jetzt? Der Haaransatz wich unter der Mütze unaufhörlich zurück, aber die maßgeschneiderte Uniform betonte noch immer die große, breitschultrige Gestalt. Auf sie hatte er geschoben, dass er es in der Ausbildung nicht in die Düsenjäger geschafft hatte, sondern als Pilot einer Hercules-Transportmaschine, eines geflügelten Lastesels, geendet war. Zu Hause hatte er so getan, als ob er ein paar Zentimeter zu groß gewesen wäre, um in das Cockpit eines Starfighters, einer F-5 oder F-16, zu passen, die allesamt nur für Zwerge gedacht waren. Doch das war nicht der wirkliche Grund gewesen. Er hatte sich einfach nicht gegen die Konkurrenz durchsetzen können. Sein Körper hatte den Anforderungen entsprochen. Wie immer. Ihn hatte er in Schuss halten können, während alles andere den Bach hinuntergegangen war. Wie seine Ehen. Seine Familie. Sein Freundeskreis. Wie war es bloß so weit gekommen? Und wo war er gewesen, als es geschehen war? Vermutlich in einem Hotelzimmer in Kapstadt oder Alta, mit Kokain in der Nase, um die potenztötenden Drinks aus der Bar zu kompensieren, den Schwanz in irgendeiner Not-welcome-back-Miss , um all das zu kompensieren, was er nicht war und niemals sein würde.
    Tord Schultz’ Blick fiel auf einen Mann, der ihm zwischen den Sitzreihen entgegenkam. Er ging mit gesenktem Kopf, überragte aber trotzdem alle anderen Passagiere. Er war schlank und breitschultrig wie er selbst. Die kurzen, blonden Haare standen wie die Borsten einer Bürste von seinem Kopf ab. Er war jünger als Tord, sah aus wie ein Norweger, schien aber nicht zu den Touristen zu gehören, die wieder ins Land zurückkamen. Eher sah er aus wie ein expat, mit dem gedämpften, fast grauen Braun der Haut, das so typisch war für Weiße,
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