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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve
Autoren: Jo Nesbø
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die sich lange in Südostasien aufhielten. Der braune, ohne Zweifel maßgeschneiderte Leinenanzug stand für Qualität und Seriosität. Vielleicht ein Geschäftsmann. Mit einem nicht gerade florierenden Geschäft, schließlich war der Mann Economy-Class geflogen. Aber es war weder der Anzug noch die Größe des Mannes, die Tord Schultz’ Aufmerksamkeit erregt hatten. Es war die Narbe. Sie führte vom linken Mundwinkel wie eine geschwungene Sichel bis hinauf zum Ohr. Grotesk und herrlich dramatisch.
    »See you.«
    Tord Schultz zuckte zusammen, schaffte es aber nicht, den Gruß des Mannes zu erwidern, bevor dieser das Flugzeug verlassen hatte. Die Stimme hatte heiser und rau geklungen, und die blutunterlaufenen Augen ließen annehmen, dass er gerade erst aufgewacht war.
    Das Flugzeug war leer. Der Minivan mit dem Personal, das das Flugzeug reinigen sollte, wartete bereits auf der Rollbahn, als die Crew das Flugzeug geschlossen verließ. Tord Schultz registrierte, dass der kleine Russe mit der gedrungenen Figur als Erster ausstieg und über die Gangway nach oben lief. Sein Blick glitt über die gelbe Schutzweste mit dem Logo der Firma, Solox.
    See you .
    Tord Schultz’ Hirn wiederholte die Worte, als er durch den Korridor in Richtung Crewcenter ging.
    »Hattest du auf dem Koffer nicht noch so einen Boarding Bag?«, fragte eine der Stewardessen und zeigte auf seinen Rollkoffer von Samsonite. Er wusste nicht mehr, wie sie hieß. Mia, oder Maja? Auf irgendeinem Stop-over hatte er sie mal gevögelt. Aber das musste mindestens ein halbes Jahrhundert her sein. Wenn es denn nicht eine andere gewesen war.
    »Nein«, sagte Tord Schultz.
    See you . Wie in »wir sehen uns wieder«? Oder wie in »ich sehe, dass du mich ansiehst«?
    Sie gingen an der Trennwand des Crewcenters entlang, hinter der im Prinzip auch ein Zollbeamter lauern konnte. In neunundneunzig von hundert Fällen war der Stuhl, der dort stand, aber leer. Im Laufe der dreißig Jahre, die er inzwischen bei der Fluggesellschaft arbeitete, war er nicht ein einziges Mal kontrolliert oder durchsucht worden.
    See you .
    Wie in »ich sehe dich ganz genau« und in »ich sehe, wer du bist«.
    Tord Schultz schob sich eilig durch die Tür des Crewcenters.
    Sergej Ivanov sorgte wie gewöhnlich dafür, als Erster aus dem Minivan zu steigen, als dieser neben dem Airbus hielt, und sprintete über die Treppe nach oben in das leere Flugzeug. Er nahm den Staubsauger mit ins Cockpit, schloss die Tür hinter sich und zog die Latexhandschuhe bis zu seinen Tätowierungen hoch. Dann klappte er den Deckel des Staubsaugers auf und öffnete den Schrank des Flugkapitäns. Er nahm den kleinen Samsonite Boarding Bag heraus, zog den Reißverschluss auf, löste den Metallboden und versicherte sich, dass die vier backsteinartigen Ein-Kilo-Blöcke darin waren. Dann stopfte er die Tasche in den Staubsauger und drückte sie zwischen den Schlauch und den großen Staubsaugerbeutel, den er vorher sorgsam geleert hatte. Nachdem er den Deckel wieder geschlossen hatte, öffnete er die Tür des Cockpits und begann zu saugen. Die ganze Operation war im Laufe weniger Sekunden erledigt.
    Als sie die Kabine aufgeräumt und gereinigt hatten, kletterten sie aus dem Flugzeug und luden die hellblauen Müllsäcke hinten in den Daihatsu, dann fuhren sie wieder zurück in ihren Aufenthaltsraum. Nur noch eine Handvoll Maschinen sollte starten oder landen, bis der Flughafen über Nacht gesperrt wurde. Ivanov sah über seine Schulter zu Jenny, die die Schicht leitete. Sein Blick glitt über den PC -Bildschirm, der die Ankunfts- und Abflugzeiten anzeigte. Keine Verspätungen.
    »Ich nehme Bergen, die 28er«, sagte Sergej mit seinem harten, russischen Akzent. Aber er sprach wenigstens die Sprache, es gab Landsleute, die seit zehn Jahren in Norwegen lebten und noch immer auf Englisch ausweichen mussten. Als Sergej zwei Jahre zuvor hierhergeholt worden war, hatte der Onkel ihm gesagt, er müsse Norwegisch lernen, was ihm aber vielleicht gar nicht so schwerfallen würde, wenn er etwas von seiner Sprachbegabung habe.
    »Die 28er ist schon voll«, sagte Jenny. »Du kannst Pause machen bis zur 22er nach Trondheim.«
    »Nein, ich nehme Bergen«, sagte Sergej. »Nick nimmt Trondheim.«
    Jenny sah ihn an. »Wie du willst. Aber überarbeite dich nicht, Sergej.«
    Sergej ging zu einem der Stühle an der Wand, setzte sich und lehnte sich vorsichtig zurück. Zwischen den Schulterblättern war die Haut noch immer empfindlich. Dort hatte
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