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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn
Autoren: Arnaud Delalande
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Fahnen, die in die Höhe gehaltenen Heiligenbilder, die Bibeln und Lorbeerzweige und den Jungen, der einen Laternenpfahl hinaufgeklettert war und als Erster die  fumata  entdeckt und mit dem Finger zum Himmel gewiesen hatte. Eine Welle der Ergriffenheit war durch die Menschenmenge gegangen. Und wenig später war Leonardo Spinelli di Rosace, der neue Papst, auf dem Balkon erschienen, mit dem Fischerring an der Hand und die dreifach gekrönte Tiara auf dem Haupt.
    Er hatte den Namen Clemens XVI. gewählt.
    Judith holte tief Luft und dachte an ihren eigenen Werdegang. Das Abenteuer, das sie in die Tiefen der Krypta von Notre-Dame-Sous-Terre auf dem Mont-Saint-Michel geführt hatte, wo sie die antike Menora gefunden hatte, lag eine ganze Weile zurück. Inzwischen hatte sie die dreißig überschritten und arbeitete als »Bevollmächtigte« oder »Sonderberaterin« unter Kardinal Lorenzo, dem Direktor der Vatikanischen Sammlungen. Er hatte die engagierte Kunsthistorikerin unter seine Fittiche genommen und betraute sie nun mit allen interessanten Reliquienfragen und biblischen Rätseln.
    Lange war es her, dass sie darüber nachgedacht hatte, ob sie sich dem strengen Klosterleben widmen oder auf eine Professur an der Sorbonne zusteuern sollte, zu der sie sich nicht berufen fühlte. Inzwischen war Judith reifer geworden. Auch ihr Körper hatte sich verändert. Ihr blondes Haar trug sie kürzer und ihre Züge hatten sich verfeinert. Hier und da war eine kleine Falte entstanden, die den Ausdruck des Staunens auf ihrer Stirn, die Grübchen ihres Lächelns oder ihre hohen Wangenknochen betonte. Lächelnd blies sie eine blonde Strähne fort, die ihr in die Stirn gefallen war. Obwohl sie nicht in einen Orden eingetreten war, hatte der frühere Kardinal Spinelli ihr im Vatikan eine besondere Stellung verschafft. Judith hatte dabei mitgewirkt, seinen direkten Rivalen, Kardinal Angelico, auszuschalten, der sich mit der Investa-Affäre kompromittiert hatte, einem der schlimmsten politischen Finanzskandale des Vatikans. Sie hatte dazu beigetragen, dass Kardinal Spinelli die Papstwürde erlangte, und ihn vor großen Unannehmlichkeiten bewahrt. In schwachen Momenten, wenn sie sich von ihrer Eitelkeit hinreißen ließ, über die sie sich jedoch in der Regel eher amüsierte, sagte sie sich, dass es einen Zeitpunkt gegeben hatte, da das Schicksal der katholischen Kirche in ihrer Hand lag. Bei diesem Gedanken vertiefte sich ihr Lächeln.
    Heute bewegte sie sich auf den Fluren des Vatikans, als sei sie dort zu Hause. Ihr Status war deshalb so ungewöhnlich, weil es am Heiligen Stuhl nur wenige Frauen gab. Für Aufgaben wie das Kochen, die Haushaltsführung, das Nähen und die Telefonzentrale waren geistliche Schwestern zuständig, aber das waren eher graue Mäuse, die nicht auffielen, wenn sie durch die Flure huschten. Es gab auch Frauen, die zur Gesellschaft Christus Rex oder den Virgines consecratae gehörten und Keuschheit und Armut gelobt hatten. Sie waren aber streng genommen keine Nonnen, sondern hatten eine Ausnahmestellung inne.
    Bei dem Gedanken, wie weit sie es gebracht hatte, freute sich Judith. Der einzige Wermutstropfen war ihr brachliegendes Gefühlsleben. Von Zeit zu Zeit sagte sie zu sich: Judith, Mädchen, manchmal kommst du mir wie eine Außerirdische vor… Sie hatte sich zwei- oder dreimal in einen gut aussehenden Italiener verguckt, aber nie war etwas daraus geworden. Erst war sie immer bis über beide Ohren verliebt, dann lief die Sache schief, und sie war wieder auf sich gestellt. Das hatte sicher auch mit ihrer Arbeit zu tun, sagte sie sich. In gewisser Weise machte sie anderen Menschen Angst. Ob das wirklich nur an ihrem ungewöhnlichen Beruf lag, an ihrer Nähe zu kirchlichen Kreisen, oder spielte dabei auch ihre grundsätzliche Unentschlossenheit, ihre schmerzliche Zerrissenheit eine Rolle, die sie einerseits zu Gott, andererseits zu den Menschen zog? Judith war sich nicht sicher, aber das Ergebnis war greifbar: Sie wohnte allein in ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in der Via Veneto und trotz ihres anregenden, bewegten Berufslebens wurde ihr häufig die Zeit lang.
    Drei- oder viermal im Jahr besuchte sie ihre Familie in Frankreich, manchmal Verwandte im Limousin, manchmal ihre pensionierten Eltern in der Normandie. Auch sie waren erstaunt über die unglaubliche Karriere ihrer Tochter. Beraterin des Papstes, in der Tat, das war nicht gerade etwas Alltägliches. Ja, sagte sich Judith und fuhr sich mit der Hand über
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