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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn
Autoren: Arnaud Delalande
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Kerls eingebracht hatte, doch getötet hatte er noch nie. Außer wenn er Hingerichteten den Gnadenstoß gab, so wie heute. Dann verkürzte er ihr Leiden. Beinahe eine edle Aufgabe. Und außerdem! Soldat war schließlich Soldat! Es war sein Beruf, seine Aufgabe, Krieg zu führen. Seit wann musste man über Dinge, die so klar waren, diskutieren? Hatte Longinus nicht erlebt, wie der goldene Adler des Imperiums vor dem Kolosseum in der Sonne strahlte? Hatte er nicht mit eigenen Augen den Imperator vorbeiziehen sehen, an einer Volksmenge, die tausendmal so groß wie die der Anhänger Jesu war, dieses Pack, das sich auf dem Berg versammelte, um seinem Propheten zu lauschen? Selbst wenn er eigenhändig tausend Menschen getötet hätte, so hätte er nur seine Pflicht getan.
    Ja, aber hier und heute… von welchem Krieg faselst du eigentlich? Kannst du mir das sagen, Longinus?, fragte er sich.
    Er richtete sich auf, die Fäuste geballt, das Gesicht verzerrt.
    »Er war tot!«, schrie er. Einen Augenblick lang überfiel ihn Furcht, dass die anderen noch in der Nähe waren, ihn vielleicht gehört hatten, aber niemand sah ihn an, niemand rührte sich.
    Hörst du mich?, sagte er wieder, wie um sich zu überzeugen. Er war schon tot! Du hast es doch gesehen, du hast es selbst gesagt! Seine Augen waren jetzt blutunterlaufen, seine Züge wie ausgelaugt von dem Sandsturm. Seine Hautfarbe schien verändert. Er sah plötzlich aus wie ein Eremit, ein Mann der Wüste. Er konnte sich nicht beruhigen. An Fragen war er nicht gewöhnt. Entscheidungen hatte er immer seinen Vorgesetzten überlassen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sich fragte: Und jetzt? Was soll ich tun? Wie entscheide ich mich richtig?
    In diesem Moment sah er, dass sie sich näherten.
    Maria bildete die Spitze. Feierlich schritt die Prozession voran, niemand sprach ein Wort. Der Anblick brachte den Legionär endgültig aus der Fassung. Langsam erhob er sich, seine Augen reibend. Als er seinem Vorgesetzten, dem Centurio Abenadar, entgegenging, der sich ebenfalls näherte, erschienen ihm seine Glieder unendlich schwer.
    Inzwischen waren Joseph und Nikodemus auf Leitern gestiegen. Sie hielten ein großes Tuch, an dem drei kräftige Riemen befestigt waren. Dieses schoben sie Jesu unter die Achseln und um Knie und Arme, um seinen Leib zusammenzuschnüren. Mit dem Leintuch hielten sie die sterbliche Hülle an den Balken fest. Zuerst zogen sie die Nägel aus den Handgelenken, dann entfernten sie den Nagel, mit dem man die Füße durchbohrt hatte. Währenddessen erstattete Longinus seinem Vorgesetzten zerstreut und mit monotoner Stimme Bericht. Es fiel ihm schwer, die Augen von der Kreuzabnahme abzuwenden, sein Kopf drehte sich unwillkürlich ständig dorthin. Plötzlich hielt er mitten im Satz inne, und Abenadar sah zu seinem Erstaunen, dass Longinus ihn stehen ließ und sich entschlossenen Schrittes dem Kreuz näherte.
    Mit klopfendem Herzen sammelte er einen nach dem anderen die Nägel auf, ohne zu begreifen, was er tat, und legte sie Maria zu Füßen.
    Die Mutter des Heilands sah ihn traurig und dankbar an.
    Stück für Stück ließen die Freunde Jesu seinen Leichnam liebevoll und behutsam, als fürchteten sie ihm wehzutun, mit Hilfe des Tuchs herab, bis er auf der Erde lag. Dort umhüllte man ihn von der Taille bis zu den Knien. Die Männer rieben ihm die Stirn mit einem Lappen ab. Dann legten sie ihn seiner Mutter in die Arme. Zitternd trat Longinus zurück. Den Verweis Abenadars hörte er nicht.
    Er hatte nur Augen für Maria, und das Herz wurde ihm schwer. Erinnerungen stiegen in ihm auf, und er meinte, teilweise zu begreifen, was in ihm vorging. Hatte er nicht vor seiner Abreise aus der Heimat den Tod seiner geliebten Frau und kleinen Tochter miterleben müssen? Die damalige Traurigkeit hatte ihn jetzt wieder überfallen, und wirre Bilder suchten ihn heim. Eine ausgestreckte Hand, ein verletztes Gesicht – Bilder, die er für immer hatte vergessen wollen. Und nun verschmolzen sie mit der Szene vor seinen Augen, dem Echo seiner eigenen Geschichte. Er stellte sich vor, wie alles Leid der Welt über sie hereinbrach, und seine plötzliche Vision war ein Aufruf zu Vergebung und Erlösung, dem er sich nicht entziehen konnte.
    Er sah Maria an und versuchte, ihr Geheimnis zu ergründen, denn auch über diese Frau waren Legenden im Umlauf. Es hieß, ein Engel habe sie besucht, als sie noch keine fünfzehn Jahre alt war. Besucht von einem Engel und geschwängert von…
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