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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn
Autoren: Arnaud Delalande
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niemandem! So hatte sie inmitten der Wüste die Last der Welt getragen. Ecce virgo in utero habebit et pariet filium et vocabunt nomen eius Emmanuel quod est interpretatum Nobiscum Deus. – Seht die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns. Ein Kind ohne Vater… war so etwas überhaupt möglich?
    Sie saß auf einer Decke, die man über Felsen und Sand ausgebreitet hatte. Hinter ihr lagen Mäntel. Die Männer legten Jesu Leichnam auf das große Leintuch, das ihren Schoß bedeckte. Der Kopf des Gekreuzigten ruhte auf ihren Knien, von einem Kissen gestützt. Mit tränenverschleierten Augen streichelte sie ihn, bedeckte ihn weinend und lächelnd mit Küssen. Dann flüsterte sie ihm Dinge ins Ohr, die nur ihm etwas sagten. Erinnerungen an Bethlehem, Nazareth und Galiläa. Während sie ihren Sohn ans Herz drückte, dachte sie ohne Zweifel an alles, was bei seiner Geburt geschehen war, an das Kind, das sie einst in einer märchenhaften Nacht im Arm gehalten hatte, unter dem Blick der Könige. War sie die Auserwählte, die Himmelspforte, der Morgenstern? Sie hatte die Frucht getragen und nun lag ihr Sohn hier, furchtbar gemartert, mit offenen Wunden. Sie zitterte am ganzen Leib.
    »Sie haben dir so großes Leid angetan, mein Sohn, so großes Leid…«
    Sie streichelte ihn noch immer, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Ihre zitternden Hände bedeckten seine Lider, strichen ihm über die Stirn, spielten mit seinen Haaren. Dann hob sie den Kopf und wieder traf ihr Blick den des Longinus.
    Erstaunt sah sie den Soldaten an, der bleich und steif vor ihr stand.
    Dann schien ein neues Licht in Marias Augen aufzuleuchten.
    Als sie ihre langen Wimpern senkte, wusste Longinus, was er zu tun hatte.
    Er sah auf seine Lanze, die er immer bei sich trug. Die Lanze, befleckt von dem Blut, das Joseph von Arimathia gerade in einem roten Gefäß mit blauem Rand auffing. Longinus wickelte die Spitze der Waffe in ein Tuch, das mit Salben getränkt war, wie man sie zum Einbalsamieren verwendete.
    Lange nachdem Jesu Freunde den Leichnam weggebracht hatten, kauerte sich Longinus hin und blieb mehrere Stunden regungslos sitzen. Maria war mit wehendem Gewand aufgestanden und hatte sich entfernt. Er sollte sie nie wiedersehen.
    Der Legionär lauschte auf die Stille und den großen Tumult in seiner Seele.
    Das Kreuz war entfernt worden, Christus war in ein Leichentuch gewickelt und bestattet worden, aber Longinus schaute noch immer auf den Hügel von Golgatha. Die wenigen Menschen, die vorübergingen, fragten sich, was dieser römische Soldat da wohl machte, zwischen der Verbrechergrube und dem Hügel, den Gräbern und den Ölbäumen. Er schien nicht in dieser Welt zu weilen.
    Lag es an der heftigen Erregung, oder konnte er tatsächlich plötzlich scharf sehen? Er hatte das Gefühl, so klar zu sehen wie noch nie in seinem Leben.
    Der Geist Gottes war vorbeigegangen.
    Da stand Longinus endlich auf.
    Einige Zeit später desertierte er aus der römischen Armee. Seine Lanze nahm er mit. Als er hörte, Christus sei aus dem Grab auferstanden, bestärkte ihn das nur in seiner Überzeugung. Er hatte sich nicht geirrt. Die Lanze war jetzt heilig. Sie durfte nicht in falsche Hände geraten. Sie musste Gott dargebracht werden. Er fasste den Plan, sie in einer geweihten Kapelle in der Nähe der Heimatstadt Jesu zu verbergen.
    Es war die erste feierliche Handlung, der Beginn der Rituale, die erste Kommunion. Er wickelte die Lanze mit größter Sorgfalt ein. Am Eingang einer kühlen Höhle, unter einem stummen Steingewölbe, fiel der Krieger schwerfällig auf die Knie. Dann sprach er mit hängenden Armen und erstauntem Gesicht ungeschickt ein Gebet. Mit einem leichten Zittern schwankte sein Körper vor und zurück. Er, der römische Legionär, betete vor seiner Opfergabe, betete für das Heil der Welt.
    Das Geheimnis musste für immer gewahrt bleiben. Nur wenige Menschen durften eingeweiht werden. Sie mussten schwören, sich die Reliquie nie anzueignen oder das Geheimnis der Kapelle, in der sie verborgen war, zu lüften.
    Bevor er nach Italien zurückkehrte, wo er einige Jahre später starb, hielt der Legionär jede Einzelheit seiner Bekehrung und auch sonst alles fest, was ihm an jenem Abend auf Golgatha widerfahren war. Da ihn seine Tat noch immer quälte, drängte es ihn, von seiner inneren Umkehr, von den Augenblicken, die ihn für immer in
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