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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn
Autoren: Arnaud Delalande
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ab, legte ihre Brieftasche in die Schachtel und suchte mühsam unter ihrer Weste nach dem Mobiltelefon in ihrer Jackentasche. Dabei rutschte ihr der Helm leicht ins Gesicht. Plötzlich klingelte es. Judith spürte, wie ihr Herz einen Satz machte. Nach einem Blick auf die Nummer gab sie dem Hauptmann ein Zeichen.
    Sie drückte auf den Knopf und meldete sich mit tonloser Stimme: »Judith Guillemarche.« Im Herzen dachte sie: ›Ja, ich heiße Judith Guillemarche und, Herr im Himmel, hier habe ich wahrlich nichts verloren!‹ Dann hörte sie aus weiter, weiter Ferne die Stimme von Kardinal Lorenzo, dem Direktor der Vatikanischen Sammlungen.
    »Wo sind Sie? Ist alles in Ordnung?«
    Im Tal schien sich plötzlich eine Totenstille auszubreiten. Judith nahm nur noch den glühenden Wind auf ihrer Wange wahr. Ihre Lippen waren ausgetrocknet. Die Welt hielt den Atem an. Dann gab der Hauptmann das Signal zum Abmarsch. Die vierzig Soldaten setzten sich wie ein Mann in Bewegung und stiegen unter gegenseitigen Ermunterungen in ihre Fahrzeuge. Die Motoren dröhnten, Staubwolken wirbelten in die Höhe.
    Zwei Soldaten packten Judith an den Armen und drängten sie, sich ebenfalls in Gang zu setzen. Die Landschaft tanzte vor ihren Augen, während sie ausrief:
    »Nein, nichts ist in Ordnung! Hier ist gar nichts in Ordnung!«
    Der Hauptmann entriss ihr das Telefon.
    Oh mein Gott, mein Gott, das kann doch nicht wahr sein!, dachte sie.
    Ihre Augen öffneten sich weit vor Entsetzen.
    Es war zu spät. Es gab kein Zurück.

Erster Teil
    D as Testament des Longinus

1. Kapitel
    Golgatha
    Ecce virgo in utero habebit et pariet filium etvocabunt nomen eius Emmanuel quod est interpretatumNobiscum Deus.
    Matthäus (1,23)
     
    Es geschah an einem Freitag. Der Himmel leuchtete zuerst in grellen Farben, dann legte sich ein trüber Schleier darüber. Ab elf Uhr türmten sich die Wolken über Golgatha. Auf dem Hügel hatten sich tausend Menschen versammelt, um das Schauspiel mitzuerleben. Es hatte sich beinahe den ganzen Tag hingezogen. Nun näherten sich die furchtbaren Stunden ihrem Ende.
    Ein sechs Meter hohes Kreuz stand auf dem Hügel. An diesem traurigen spitzen Pfeil, der wie ein Riss in der Dämmerung war, hing mit gesenktem Haupt und ausgebreiteten Armen, winzig unter dem düsteren Himmelsgewölbe, Er. Seine übereinanderliegenden Beine bildeten einen seltsamen Winkel.
    Ecce homo. Der Schmerzensmann.
    Longinus betrachtete den Gekreuzigten. Er schien auf ihn zu warten, der Schattenriss vor dem dunklen Saum des Äthers und den Bergen, die sich vor dem fahlen Licht abzeichneten. Der Legionär trug Helm, Schild und Rüstung unter der roten lederbesetzten Tunika, dazu Beinschoner und Sandalen. Sein großes Schwert und seinen Speer hatte er abgelegt, an seiner Linken hing ein Dolch. Seine Lanze, das Machtsymbol des Herodes Antipas, hielt der würdige Vertreter des Prokonsuls Pontius Pilatus und der Tempelgarde schräg vor der Brust.
    Du, Lanze des Herodes Antipas! Pfeil des Tetrarchen und der Prokonsuln! Emblem der Allmacht Roms, jener anderen Göttin der Welt.
    Schwer lag die Lanze im Arm des Legionärs. Sie war über einen Meter fünfzig lang und mit einer besonders scharfen Metallspitze ausgestattet. Auf ihrem schwarzen Schaft brach sich schimmernd das Licht, obwohl die Sonne nicht schien. Er bestand aus mehreren ineinandergesteckten Teilen. Zusammengeschoben hätte man die Waffe für einen Knüppel halten können. Longinus prüfte ihr Gewicht und ließ sie durch seine Handfläche gleiten. Die gefährliche Eisenspitze steckte in einem eisfarbenen Ring. Darunter waren zwei bewegliche Klingen mit feinen silbernen Spitzen angebracht, die sich öffneten, sobald die Waffe ihr Opfer durchbohrte. Auf der Mitte des Griffs wölbte sich die Figur eines Adlers, seine Flügel standen auf beiden Seiten hervor. Je drei goldene Ringe rahmten das Herrschaftssymbol oben und unten ein. Longinus hielt die Lanze jetzt himmelwärts gerichtet. Dann klemmte er sie sich unter die Achsel und ritt unter den dunklen Wolken weiter. Er, der sonst stolz unter dem Befehl seines Hauptmanns vorwärtsstürmte, musste sich nun mit seinen Kameraden dem Unwetter stellen. Kaum hatten sie das Ephraimtor passiert, packte sie der Sturm. Hinter ihnen kamen die sechs Henker mit Leitern, Planen, Seilen und Stangen, mit denen die Beine der Hingerichteten gebrochen werden sollten. Als sich Longinus den drei Gekreuzigten näherte, ergriff ihn plötzlich eine innere Unruhe.
    Beim Gedanken an
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