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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn
Autoren: Arnaud Delalande
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er sich wappnen. Er zwang sich, nicht an die Leichen zu denken. Er hielt sogar den Atem an, vielleicht um seinen Abscheu im Zaum zu halten, vor allem aber, um nicht darüber nachzudenken, was er tat. Bald würden auch die beiden Räuber in das Tal zwischen Golgatha und der Stadtmauer geschleift werden, um dort zu den anderen Hingerichteten geworfen zu werden.
    In diesem Augenblick brachen ihnen die Henker mit den Eisenstangen die Arme oberhalb und unterhalb der Ellbogen. Die Räuber heulten auf vor Schmerz. Dem Legionär gefror das Blut in den Adern. Dann brach man ihnen die Beine. Longinus hörte das Zersplittern der Schienbeine und Oberschenkel, die Schläge, mit denen man den Brustkorb zerschmetterte. Er hörte das kurze Keuchen seines Kameraden, der die Körper an verschiedenen Stellen mit der Lanze durchbohrte, um sicherzugehen, dass sie tot waren. Dann band man die Leichen los. Sie stürzten zu Boden.
    Nun drehten sich alle zu ihm um.
    »Los, Longinus, worauf wartest du noch? Knöpf’ dir den Dritten vor!«
    Mit diesem Leichnam sollte anders verfahren werden. Ein Mann namens Joseph von Arimathia hatte von Pontius Pilatus erwirkt, dass ihm nicht die Glieder gebrochen wurden. Nun war es Longinus’ Aufgabe festzustellen, dass der Gekreuzigte auch wirklich tot war. Der Legionär ergriff seine Lanze und ließ sie durch die feuchte Hand gleiten. Es fiel ihm schwer, die Begeisterung seiner Kameraden aufzubringen. Lag das wirklich nur an dem Sand, den ihm der verdammte Sturm in den Mund blies, und an dem Wind, der ihm unaufhörlich in den Ohren heulte?
    Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er langsam den Hügel hinaufschritt. Vor ihm hing der Gekreuzigte. Er stand in seinem Schatten.
    Longinus machte noch einige Schritte auf ihn zu.
    Er ist schon tot!, dachte er.
    Oft gaben die Hingerichteten erst nach zwei oder drei Tagen den Geist auf. Aber die körperlichen und seelischen Qualen des Mannes aus Nazareth und seine große Angst vor dieser letzten Aufgabe hatten seinen Tod in weniger als fünfeinhalb Stunden herbeigeführt. Longinus war erleichtert. Er würde diesen Menschen nicht umbringen müssen, brauchte ihm nicht den Todesstoß zu geben. Dieser Gedanke war ihm, seltsamerweise, unerträglich gewesen.
    »Er ist schon tot!«, sagte er zu den anderen gewandt und bemühte sich, seine Erleichterung zu verbergen.
    »Bist du dir auch ganz sicher?«, fragte der Gardehauptmann.
    »Los! Bringen wir’s zu Ende«, sagte ein anderer.
    Longinus biss die Zähne zusammen. Er fluchte, dann lächelte er zum Schein.
    Er wandte sich wieder dem Toten zu.
    Dann holte er tief Luft, sorgte dafür, dass er festen Halt hatte, indem er leicht das Knie einknickte, um die Schräge des Hanges auszugleichen, und stieß zu, beide Hände fest um die Lanze gelegt. Kraftvoll. Präzise. Wie man es ihm beigebracht hatte.
    Schon tausendmal hatte er diese Bewegung ausgeführt.
    Er reckte die Arme, so weit er konnte. Als die Lanzenspitze die Haut zerriss und in die rechte Seite eindrang, verzog er das Gesicht. Die silbernen Widerhaken öffneten sich. Dann drang die Waffe tief ein, bis zum Herzen. Da er von unten stoßen musste, hatte der Legionär sie unter den Rippen entlang geführt, durch den Leib und die lebenswichtigen Organe, ohne auch nur einen Knochen zu verletzen. Durch den Stoß wurde der Gekreuzigte ein wenig angehoben.
    Longinus dachte bei sich: Bist du nun tot, bist du auch wirklich tot?
    Ja, Jesus war tot, aber der Lanzenstoß hatte zu einer jähen Erschütterung des Leichnams geführt. Der Kopf senkte sich zu dem Legionär hin. Der Mund stand offen und plötzlich…
    Dieser Augenblick sollte Longinus für immer im Gedächtnis bleiben.
    Christus öffnete die Augen.
    Es dauerte nur einen Moment, einen ganz kurzen Moment. Die Lider hatten sich geöffnet und wieder geschlossen.
    Ihre Blicke hatten sich gekreuzt, und eine Sekunde lang hatte Longinus geglaubt, dass er sehr wohl noch am Leben – oder aus dem Jenseits zurückgekehrt war.
    Er brach in kalten Schweiß aus. Seine Bestürzung war grenzenlos. Und die quälende Scham war wieder da…
    Er zitterte. Nur mit Mühe konnte er die Lanze zurückziehen, als leistete das Fleisch Widerstand. An der blutigen Spitze hingen Hautfetzen. Aber da war noch mehr…
    Der Legionär zog die Brauen zusammen. Wasser? Mit Blut vermischtes Wasser lief an Jesu Seite herunter! Das war unmöglich! Er wagte nicht, die Stelle zu berühren. Wieder hob er die Augen zu dem Leichnam. Von hinten näherten sich seine
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