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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn
Autoren: Arnaud Delalande
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dem Kopf unter dem Arm dargestellt. Bald hörte man das Stöhnen der Gebärenden. Eine Schwester nahm ihre Hand und sprach ihr leise Mut zu. Eine andere wischte ihr den Schweiß von der Stirn, auf der einige Locken klebten.
    Judith schnürte es die Kehle zusammen. Sie hatte die Hände auf die Balustrade gelegt, die den kleinen Nebenraum abtrennte, in den sie sich zurückgezogen hatte, um die Geburt von dort mitzuerleben. Das Gebäude war durch einen Kreuzgang mit einem anderen Teil des Klosters verbunden. Judith hörte das Plätschern eines Brunnens, der ganz in der Nähe sein musste. Eine schwarz gekleidete Schwester beugte sich zwischen die Beine der Leihmutter. Die Presswehen hatten eingesetzt und alle warteten auf den Moment, wo der Kopf des Kindes sichtbar würde. Unterdessen wurde Judith von zwei Vorstellungen heimgesucht, gegen die sie sich vergeblich zu wehren versuchte.
    Einmal war das Kind ein Prinz mit einem Heiligenschein, umgeben von einer jenseitigen Aura, die es zu einer neuen Hoffnung machte, zu dem Lanzenträger, der das Heil der Welt brachte, zum wiedererstandenen Messias, der bald zum Wohle der Menschheit Wunder wirken würde bis zum Ende aller Zeiten. Ihre zweite Vision verwandelte ihn in einen Messias der Finsternis, eine monströse, unförmige Kreatur. Bisher waren auf den Ultraschallaufnahmen keine Missbildungen festgestellt worden, aber Judith fürchtete plötzlich, es könnte ein riesiges Insekt zur Welt kommen, mit verwachsenen Gliedern, das schon jetzt seine Wut und Verzweiflung über das Unglück herausschreien würde, das ihm die Welt bereitet hatte. Würde es nicht ein Mutant sein, der erste seiner Generation, der erste menschliche Klon? Judith war sich dessen bewusst, dass ihre Fantasie mit ihr durchging und sie von Wahnvorstellungen besessen war, schönen wie schrecklichen.
    Endlich stieß Elena einen Schrei aus, und das Kind war geboren.
    Judith trat einen Schritt zur Seite und stellte sich auf die Zehenspitzen.
    Das Neugeborene war blutig und stieß nun ebenfalls einen Schrei aus, dann weinte es. Judith ahnte, dass man ihm jetzt die Nabelschnur durchschnitt. Eine Schwester hüllte es lächelnd in ein Tuch, dann zeigte sie es seiner Mutter.
    Es läutete gerade zur Komplet, zum Nachtgebet um einundzwanzig Uhr, als auch Judith das Kind sah.
    Ihr schwindelte und sie hielt sich an der Balustrade fest. Was soll ich, ausgerechnet ich, ihm beibringen?, dachte sie.
    Sie war zutiefst bewegt.
    Nun untersuchten die Ärzte das Kind gründlich, prüften seine Bewegungen und Reflexe. Sie machten alle nur erdenklichen Tests, analysierten Blut und Urin. Der Vatikan würde über jede Einzelheit unterrichtet werden. Mit großer Freude stellten alle fest: Es ist in guter Verfassung, es geht ihm hervorragend, es ist ein wunderschönes Kind.
    Ein Wunder, es war ein Wunder! Das Wunder der Geburt und des Lebens. Doch unter welchen Umständen! Der Säugling, den Judith sah, war weder ein Engel noch ein Tier. Er war ein normales Neugeborenes, wie es Abertausende, Abermillionen gab. Auf den ersten Blick schien es keinerlei Anomalien aufzuweisen. Aber würde es vielleicht eines Tages, in der nahen Zukunft oder später irgendwie anders sein? In welcher Hinsicht? War es vielleicht begabter und stärker? Oder womöglich zarter und empfindlicher als andere Kinder?
    Sie würde es erziehen und ihm beibringen müssen, das Böse vom Guten zu unterscheiden. Selbst wenn sie weder seine Mutter war, noch es ausgetragen hatte, wäre sie doch seine Erzieherin, seine Patin. Sie wäre Elisabeth, die ihre Kusine Maria empfing. Sie war die gute Fee, die sich über die Wiege beugte und den Auftrag hatte, alles Schlechte von dem Kind abzuwehren.
    Du wolltest doch ein Kind, sagte sie sich. Jetzt hast du es bekommen. Du wolltest Liebe? Jetzt kannst du sie bekommen und auch schenken.
    Zwar war diese Geburt in den Augen der Welt blasphemisch und skandalös, weil es nicht dazu hätte kommen dürfen, aber Judith hatte nun die Wahl, das Kind, für das sie verantwortlich war, anzunehmen und zu lieben oder es der Schmach preiszugeben. Sie hatte nun die Aufgabe, die Sache zum Guten zu wenden. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch. In diesem Moment sah die Wöchnerin auf und ihre Blicke trafen sich. Eine Träne lief ihr über die Wange, und Judith wusste nicht, ob es eine Träne der Freude, der Bestürzung oder der Erleichterung war.
    Eines Tages würde sie die richtigen Worte finden müssen, wenn sie dem Kind vom Geheimnis
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