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Die langen Schatten der Erleuchtung

Die langen Schatten der Erleuchtung

Titel: Die langen Schatten der Erleuchtung
Autoren: Kirti Peter Michel , Klaus-Jürgen Leimann
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                            Shabkar Lama

Hanifs Gesellenstück oder wie er das Wesen der Formen erkennt.
    Schon am Nachmittag hatte es stark zu regnen begonnen. Sie saßen beim Abendbrot. Regentropfen prasselten gegen das Küchenfenster.
     
    „Es ist schon dunkel, und der Regen lässt überhaupt nicht nach! Kannst du nicht gleich ´mal nach Gary schauen, Harald, ich mach´ mir langsam Sorgen…“
     
    Marlies war die Schwangerschaft inzwischen anzusehen – ihr Bauch formte sich langsam zu einer ansehnlichen Kugel. Bedächtig balancierte sie ein Tablett mit einer Schale Milchkaffee und Keksen für Harald, der entspannt auf seinem neuesten Unikat – einem Sessel mit gewellter Rückenlehne – saß. Nachdem er mehrmals mit dem guten Stück umgefallen war, hatte er nachträglich ein fünftes Bein angedübelt. Er rüttelte einige Male an den Armlehnen. Seine eigenwillige Kreation rührte sich keinen Zentimeter.
     
    „Natürlich, mein Schatz!“, klatschte Harald mit flacher Hand triumphierend auf die Sitzfläche, „gleich nach dem Essen gehe ich los!“
     
    „Lass man, Harald“, schaltete sich Hanif ein und erhob sich, „ich wollte sowieso noch ein Bier trinken gehen. Dann kann ich auch gleich nach Gary schauen. Kann ich deinen Regenschirm nehmen, Jutta?“
     
    Hanif fand die Piazza wie leer gefegt vor. Die Gäste waren schon beim ersten Guss am Nachmittag in die zahlreichen Lokale geflüchtet. Die Kandelaber neben den Bänken auf der Piazza spiegelten ihr Licht in den nassen, quadratischen Marmorfliesen. Es hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Der Wind trieb eine leere Bierdose scheppernd quer über den verlassenen Platz. Hanif ließ sich auf der nächsten Bank nieder und schaute sich um, doch nirgendwo konnte er Gary entdecken. Er wollte die Suche schon aufgeben und in eins der Lokale gehen, als er plötzlich einen dunklen Schatten sah, der aus einem der unbeleuchteten Hauseingänge auf die Piazza trat. Es war Gary.
     
    Hanif hatte Gary schön öfters bei seiner seltsamen Performance beobachtet. So hatte er nach einiger Zeit bemerkt, dass Gary sich auch hier an der Dreiecksstruktur der Toblerone orientierte. Alle anderen Formen waren anscheinend für ihn tabu. So musste er die quadratischen Marmorplatten der Piazza erst diagonal „durchschneiden“, bevor er zwei Seiten eines Quadrats verbinden konnte. Aber niemals wiederholte er einen Schritt. Er schlug jedes Mal eine neue Richtung ein.
     
    Hanif verfolgte mit den Augen das bizarre Muster von Garys Bewegungen: „ …wie kann irgendetwas aus dem Nichts entstehen? …was bewegt alle Dinge, bevor überhaupt Worte, Gedanken und Bedeutung auftauchen? … welche Kraft bewirkt, dass Gary in diese oder jene Richtung schreitet? …er ist so konzentriert auf diesen einen Schritt, den er gerade tut, dass für ihn nichts anderes als dieses Schreiten existiert … würde ´mal zu gerne wissen, was er dabei erlebt und wie er sich fühlt…“
     
    Hanif spürte einen magnetischen Sog, der von Garys Bewegungen ausging. Wie in Trance erhob er sich und glitt langsam wie auf Kufen in Garys „Fahrwasser“. Zwei schattenhafte Gestalten begannen nun im Halbdunkel in perfekter Synchronisation kreuz und quer über die Piazza zu gleiten, wobei Hanif immer noch den Regenschirm aufgespannt hielt.
     
    Auf einmal wurde in ihm die Kraft der Formen lebendig, die Gary mit seinen Schritten beschrieb: „…all die verschiedenen Dreiecksformen, die Gary abschreitet, bringen mich ja in eine ganz eigenartige Stimmung … vielleicht liegt ja in den Formen eine geheimnisvolle Macht verborgen, mit der sich Gary verbindet …“ Hanif fühlte sich wie eine Billardkugel, die von einer unsichtbaren Bande beschleunigt zurück schnellt. „… aber warum vermeidet er die gebogenen und geschwungenen Linien, die Kurven – das Runde?...“
     
    Als wären Hanifs Gedanken zu Gary durchgedrungen, scherte er vorsichtig und zögerlich aus und begann leicht schlingernd an seinen Dreiecken entlang zu tanzen. Seine schwingenden Bewegungen gingen allmählich in sanfte Halbbögen über. Hanif folgte ihm dicht auf den Fersen.
     
    Als Gary schließlich in einer ersten Pirouette um seine eigene Achse herumwirbelte, löste sich Hanif spiegelbildlich in die entgegengesetzte Richtung, und wie ein Eiskunstlaufpaar liefen beide nach einer geheimnisvollen Choreographie ihre Kür über die Piazza. Es schien, als fände selbst der Wind an ihrer Darbietung Gefallen. Er fegte über
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