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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens
Autoren: Carlos Castaneda
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Juan, daß derjenige, der dem Tode trotzt, und die Frau in der Kirche verschiedene Ausdrucksformen derselben Energie wären. Die Frau in der Kirche sei die mächtigere und komplexere von den beiden. Als sie die Führung übernahm, benutzte sie den Energiekörper von Carol Tiggs auf eine dunkle, unheimliche Art, wie es den Praktiken der alten Zauberer entsprach, und schuf jene Carol Tiggs aus dem Hotel
    eine Carol Tiggs der reinen Absicht. Vielleicht, so fügte Don Juan hinzu, hatten Carol Tiggs und die Frau bei ihrer Begegnung eine Art von Vereinbarung getroffen. In diesem Moment kam Don Juan offenbar ein Gedanke. Ungläubig starrte er seine Gefährtinnen an. Ihre Augen huschten hin und her, von einem zum andern. Nicht nur Zustimmung heischend, dessen war ich mir sicher. Denn anscheinend hatten sie gleichzeitig etwas begriffen.
    »Alle unsere Spekulationen sind sinnlos«, sagte Don Juan, mit ruhiger, gelassener Stimme. »Ich glaube, es gibt keine Carol Tiggs mehr. Es gibt auch keine Frau aus der Kirche. Beide haben sich vereinigt und sind auf den Flügeln der Absicht davongeflogen. Vorwärts, glaube ich.«
    »Der Grund, warum die Carol Tiggs aus dem Hotel sich Sorgen um ihr Aussehen machte, war dieser«, sagte er: »Sie war die Frau in der Kirche, die dich eine andere Carol Tiggs träumen ließ. Eine unendlich viel mächtigere Carol Tiggs. Erinnerst du dich, was sie sagte? >Träume deine Absicht von mir. Beabsichtige mich vorwärts<«
    »Was bedeutet das, Don Juan?« fragte ich, wie betäubt.
    »Es bedeutet, daß die, die dem Tode trotzt, ihren letzten Ausweg gesehen hat. Sie ist mit dir auf und davon geflogen. Dein Schicksal ist ihr Schicksal.«
    »Und das heißt, Don Juan?«
    »Das heißt, daß sie. wenn du die Freiheit findest, sie ebenfalls finden wird.«
    »Wie will sie das schaffen?«
    »Durch Carol Tiggs. Aber sei unbesorgt um Carol.« Dies sagte er, noch bevor ich meine Ahnung aussprechen konnte. »Sie versteht ein solches Manöver. Und noch viel mehr.« Unendlichkeiten türmten sich vor mir auf. Schon fühlte ich ihr erdrückendes Gewicht. In einem Augenblick der Klarheit fragte ich Don Juan: »Was ist das Ergebnis von alledem?« Er antwortete nicht. Er starrte mich an, musterte mich von Kopf bis Fuß. Dann sagte er, langsam und wohlerwogen: »Die Gabe derer, die dem Tode trotzt, besteht aus unendlichen Möglichkeiten des Träumens. Eine davon war dein Traum von Carol Tiggs in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Einer umfassenderen Welt, weit und grenzenlos. Einer Welt, wo sogar das Unmögliche wahrscheinlich werden könnte. Und die Bedeutung ist. daß du nicht nur diese Möglichkeiten erleben wirst, sondern daß du sie eines Tages verstehen wirst.«
    Er stand auf, und wir machten uns schweigend auf den Weg zu seinem Haus. Meine Gedanken begannen zu rasen. Es waren eigentlich keine Gedanken, sondern Bilder - eine Mischung von Erinnerungen an die Frau in der Kirche und an Carol Tiggs. wie sie im Dunkel des geträumten Hotelzimmers zu mir sprach. Einige Male war ich nahe daran, diese Bilder zu einem Gefühl meines gewohnten Selbst zu verdichten, aber ich musste es aufgeben; ich hatte keine Energie für eine solche Aufgabe. Bevor wir beim Haus ankamen, blieb Don Juan stehen und sah mich an. Wieder musterte er mich sorgfältig, als suchte er nach Zeichen an meinem Körper. Und jetzt fühlte ich mich verpflichtet, ihn auf ein Thema anzusprechen, bei dem er, wie ich glaubte, in tödlichem Irrtum befangen war.
    »Ich war mit der echten Carol Tiggs im Hotel zusammen«, sagte ich. »Einen Augenblick glaubte ich selbst, sie sei die, die dem Tode trotzt, aber nach sorgfältiger Überlegung kann ich nicht an dieser Überzeugung festhalten. Es war Carol. Auf irgendeine unheimliche, erschreckende Art war sie in dem Hotel, genau wie ich selbst in dem Hotel war.«
    »Natürlich war es Carol«, pflichtete Don Juan mir bei. »Aber nicht die Carol, die wir beide kennen. Dies war eine geträumte Carol. wie ich dir sagte: eine Carol, bestehend aus reiner Absicht. Du halfst der Frau in der Kirche, diesen Traum auszuspinnen. Ihre Kunst war es. diesen Traum zu einer allumfassenden Realität zu machen: die Kunst der alten Zauberer, das Schrecklichste, was es gibt. Habe ich dir nicht gesagt, du würdest die krönende Lektion im Träumen erfahren?«
    »Was, glaubst du, geschah mit Carol Tiggs?« fragte ich.
    »Carol Tiggs ist fortgegangen«, antwortete er. »Aber eines Tages wirst du eine neue Carol Tiggs finden - die Carol aus
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