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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens
Autoren: Carlos Castaneda
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die kalten Bodenfliesen. Ich stieg aus dem Bett und überprüfte jeden Gegenstand im Zimmer und im Bad. Alles war völlig normal, völlig wirklich. Ich erzählte Carol, daß ich. als sie das Licht ausmachte, den klaren Eindruck gehabt hätte, daß ich träumte.
    »Laß doch mal los«, sagte sie. »Hör auf mit diesem wissenschaftlichen Blödsinn und komm ins Bett. Ruhe dich aus.«
    Ich zog die Vorhänge am Fenster zur Straße auf. Draußen war es Tag, aber sobald ich sie schloß, war es drinnen Nacht. Carol flehte mich an, ins Bett zurückzukommen. Sie äußerte die Befürchtung, ich könnte davonlaufen und auf der Straße landen, wie ich es schon einmal getan hätte. Dies klang ganz vernünftig. Also stieg ich wieder ins Bett, ohne zu merken, daß mir keinen Moment in den Sinn gekommen war, mit dem kleinen Finger auf die Dinge zu deuten. Es war, als sei dieses Wissen ausgelöscht aus meinem Gedächtnis.
    Die Dunkelheit in diesem Hotelzimmer war ganz ungewöhnlich. Sie schenkte mir ein köstliches Gefühl von Frieden und Harmonie. Sie brachte mir aber auch eine tiefe Traurigkeit, eine Sehnsucht nach menschlicher Wärme, nach Freundschaft. Ich war mehr als bestürzt. Nie war mir so etwas geschehen. Ich lag im Bett und versuchte mich zu erinnern, ob ich so etwas wie diese Sehnsucht wohl kannte. Ich kannte es nicht. Die Sehnsuchtsgefühle, die ich hatte, galten nicht menschlicher Freundschaft. Sie waren abstrakt. Sie waren eher eine Art von Trauer, etwas Unbestimmtes nicht erreichen zu können.
    »Ich werde verrückt«, sagte ich zu Carol. »Ich fange an, um Menschen zu weinen.«
    Ich dachte, sie würde meine Worte spaßig auffassen. Ich hatte es eher scherzhaft gemeint. Aber sie sagte nichts. Sie schien mich zu verstehen. Sie seufzte. In meiner instabilen Geistesverfassung fühlte ich Rührseligkeit in mir aufsteigen. Ich beugte mich in der Dunkelheit über sie und murmelte etwas, das mir in einem klaren Augenblick eher irrational vorgekommen wäre: »Ich liebe dich tief und innig«, sagte ich.
    Worte wie diese, zwischen Zauberern von Don Juans Linie, waren undenkbar. Carol Tiggs war die Nagual-Frau. Zwischen uns beiden war es nicht nötig. Gefühle zu zeigen. Tatsächlich wußten wir nicht einmal, was wir für einander fühlten. Don Juan hatte uns gelehrt, daß Zauberer weder die Zeit noch das Bedürfnis nach solchen Gefühlen hätten.
    Carol lächelte und umarmte mich. Und ich war von so verzehrender Liebe zu ihr erfüllt, daß ich unwillkürlich zu weinen anfing.
    »Dein Energiekörper bewegt sich vorwärts, auf den leuchtenden Energiefasern des Universums«, flüsterte sie immer wieder.
    »Wir sind getragen von der Absicht, dem Geschenk derjenigen, die dem Tode trotzt.«
    Ich hatte noch genug Energie, um zu verstehen, was sie sagte. Ich fragte sie sogar, ob sie selbst verstand, was dies alles bedeute. Sie legte mir den Finger an die Lippen und flüsterte in mein Ohr: »Ja, ich verstehe. Das Geschenk derjenigen, die dem Tode trotzt, waren die Flügel der Absicht. Und auf diesen Flügeln träumen du und ich uns in eine andere Zeit. In eine Zeit, die kommen wird.«
    Ich stieß sie von mir und setzte mich auf. Die Art, wie Carol diese komplizierten Zauberer-Gedanken aussprach, war mir unheimlich. Es war nicht ihre Art, begriffliches Denken ernst zu nehmen. Stets hatten wir unter uns gewitzelt, daß Carol einfach nicht den Kopf zur Zauberer-Philosophin hätte.
    »Was ist los mit dir?« fragte ich. »Dein Wesen ist mir völlig neu: Carol, die Zauberer-Philosophin. Du sprichst wie Don Juan.«
    »Noch nicht.« Sie lachte. »Aber es kommt. Es rollt mir entgegen, und wenn es mich trifft, wird es mir leicht fallen, eine Zauberer- Philosophin zu sein. Du wirst sehen. Und niemand wird es erklären können, weil es einfach geschehen wird.« Eine Alarmglocke klingelte in meinem Kopf. »Du bist nicht Carol«. schrie ich. »Du bist die. die dem Tode trotzt, verkleidet als Carol. Ich hab's gewußt.«
    Carol lachte, unbeeindruckt von meiner Anschuldigung. »Rede nicht so absurd«, sagte sie. »Du bist dabei, eine Lektion zu verpassen. Ich wußte, du würdest früher oder später nachgeben und dich gehen lassen. Glaube mir. ich bin Carol. Aber wir tun etwas, was wir noch nie getan haben: wir beabsichtigen in der zweiten Aufmerksamkeit, wie es die Zauberer der Vorzeit taten.« Ich war nicht überzeugt, aber ich hatte keine Energie mehr, um meinen Standpunkt zu verfechten, denn irgend etwas, vielleicht der große Wirbel meines
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