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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens
Autoren: Carlos Castaneda
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Welt verstehen: als Beherrschung anderer durch übernatürliche Kräfte, oder als Geisterbeschwörung durch Zauberformeln, Fetische oder Rituale zur Hervorbringung übernatürlicher Wirkungen. Für Don Juan war Zauberei die Verkörperung spezieller theoretischer und praktischer Prämissen über Wesen und Funktion der Wahrnehmung in der Gestaltung der uns umgebenden Welt. Don Juans Empfehlungen befolgend, habe ich davon abgesehen, sein Wissen durch einen spezifisch anthropologischen Begriff, den des Schamanimus, zu definieren. Vielmehr nannte ich es stets - wie er selbst - Zauberei. Bei genauerer Prüfung aber erkannte ich, daß die Bezeichnung solchen Wissens als Zauberei die ohnehin unbegreiflichen Phänomene, mit denen er mich in seiner Unterweisung bekannt machte, noch unklarer erscheinen ließ.
    In anthropologischen Schriften wird Schamanimus definiert als Glaubenssystem mancher Eingeborenenvölker im nördlichen Asien, verbreitet auch unter nordamerikanischen Indianerstämmen, das von der Annahme ausgeht, daß wir von einer unsichtbaren Weit von Ahnengeistern, von guten und bösen Kräften umgeben sind: von spirituellen Kräften, beschworen oder kontrolliert durch gewisse Handlungen der Praktiker, die als Mittler zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Weit fungieren.
    Don Juan war tatsächlich ein Mittler zwischen der natürlichen Welt des alltäglichen Lebens und einer unsichtbaren Welt, die er nicht das Übernatürliche nannte, sondern die zweite Aufmerksamkeit. Seine Aufgabe als Lehrer war, mir diese Konfiguration, von Zauberern die zweite Aufmerksamkeit genannt, zugänglich zu machen. In meinen bisherigen Büchern habe ich die Lehrmethoden beschrieben, die er zu diesem Zweck einsetzte, wie auch die Zauberpraktiken, die er mich einüben ließ: die wichtigste unter ihnen war die - so bezeichnete - Kunst des Träumens. Don Juan behauptete, daß unsere Welt, die wir für einmalig und absolut halten, nur eine unter einer Vielzahl aufeinander folgender Welten sei, angeordnet wie die Schichten einer Zwiebel. Er behauptete, daß wir, auch wenn wir energetisch darauf konditioniert sind, ausschließlich unsere Welt wahrzunehmen, dennoch die Fähigkeit haben, in jene anderen Sphären einzudringen: Sphären, die ebenso real, einzigartig, absolut und absorbierend sind wie unsere Welt.
    Don Juan erklärte mir, daß wir, um jene anderen Sphären wahrzunehmen, nicht nur ein Verlangen nach ihnen haben müssen, sondern auch genügend Energie, um uns ihrer zu bemächtigen. Deren Existenz sei unveränderlich und von unserer Wahrnehmung unabhängig, sagte er, doch ihre Unzugänglichkeit sei lediglich eine Folge unserer energetischen Konditionierung. Mit anderen Worten, einzig und allein aufgrund dieser Konditionierung sind wir gezwungen anzunehmen, daß die Welt unseres alltäglichen Lebens die einzige und einzig mögliche Welt sei. Ausgehend von der Überzeugung, daß nur unsere energetische Konditionierung uns daran hindert, in diese anderen Sphären einzutreten, erklärte Don Juan, daß die Zauberer alter Zeiten eine Reihe von Praktiken entwickelt hätten, dazu bestimmt, unsere energetische Wahrnehmungsfähigkeit anders zu konditionieren. Diese Praktiken nannten sie die Kunst des Träumens. Aus heutiger Sicht, mit zeitlichem Abstand, erkenne ich nun, daß es wohl die treffendste Aussage über das Träumen war, wenn Don Juan es als »Pforte zur Unendlichkeit« bezeichnete. Damals aber, als er dies sagte, wandte ich ein, daß eine solche Metapher für mich unverständlich sei.
    »Lassen wir also die Metaphern beiseite«, räumte er ein.
    »Sagen wir besser, das Träumen ist die Art der Zauberer, gewöhnliche Träume praktisch zu nutzen.«
    »Aber, wie können wir gewöhnliche Träume praktisch nutzen?« fragte ich.
    »Wir lassen uns immer von Wörtern täuschen«, sagte er.
    »In meinem Fall versuchte mein Lehrer, mir das Träumen zu beschreiben, indem er sagte, es sei die Art der Zauberer, der Welt >gute Nacht< zu sagen. Natürlich stellte er seine Beschreibung auf meine Mentalität ein. Das gleiche tu ich bei dir.« Bei anderer Gelegenheit sagte Don Juan zu mir:
    »Träumen kann nur erfahren werden. Denn Träumen heißt nicht einfach, Träume zu haben; es hat auch nichts mit Tagträumen oder Wunschvorstellungen zu tun. Durch das Träumen können wir andere Welten wahrnehmen, die wir gewiß auch beschreiben können, aber wir können nicht beschreiben, was uns befähigt, sie wahrzunehmen. Und doch merken wir, daß
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