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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens
Autoren: Carlos Castaneda
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morbiden Aspekte des Geistigen ab. Ich bevorzuge die Grenzenlosigkeit des Denkens. Doch abgesehen von meinen Vorlieben und Abneigungen, muß ich den Zauberern der Vorzeit doch gerecht werden: sie waren die ersten, die all das entdeckten und taten, was wir heute wissen und tun.«
    Ihre wichtigste Leistung war, so erklärte mir Don Juan, daß sie die energetische Beschaffenheit aller Dinge erkannten. Diese Erkenntnis war so bedeutsam, daß sie zur Grundprämisse der Zauberei erhoben wurde. Heute aber, sagte er, erreichten die Zauberer nur nach lebenslanger Schulung und Übung diese Fähigkeit, das Wesen der Dinge wahrzunehmen - eine Fähigkeit, die sie als Sehen bezeichnen.
    »Was würde es für mich bedeuten, das energetische Wesen der Dinge wahrzunehmen?« fragte ich Don Juan einmal. »Es würde bedeuten, daß du Energie unmittelbar wahrnimmst«, antwortete er. »Durch Abtrennung des sozial bedingten Teils der Wahrnehmung kannst du das Wesen der Dinge erkennen All dies, was wir wahrnehmen, ist Energie. Aber weil wir Energie nicht unmittelbar wahrnehmen können, konditionieren wir unsere Wahrnehmung in der Weise, daß sie sich einer Form anpasst. Diese Form ist der soziale Teil der Wahrnehmung, den du abtrennen mußt.«
    »Warum sollte ich ihn ab trennen?«
    »Weil er den Umfang dessen, was wir wahrnehmen können, willkürlich einschränkt und uns glauben macht, daß die Form, in die wir unsere Wahrnehmungen pressen, das einzige sei, was es gibt. Wenn der Mensch heute überleben will, davon bin ich überzeugt, wird er die soziale Grundlage seiner Wahrnehmung verändern müssen«
    »Was ist die soziale Grundlage der Wahrnehmung, Don Juan?«
    »Die physische Gewissheit, daß die Weit aus konkreten Objekten besteht. Dies bezeichne ich als soziale Grundlage, weil alle in dieser Gesellschaft uns zwingen wollen, die Weit so wahrzunehmen, wie wir sie eben kennen.«
    »Wie aber sollten wir die Weit wahrnehmen?«
    »Alles ist Energie. Das ganze Universum ist Energie. Die soziale Grundlage unserer Wahrnehmung sollte die physische Gewissheit sein, daß es nichts andres gibt als Energie.
    Wir sollten alles tun und die Fähigkeit schulen, Energie als Energie wahrzunehmen. Dann hätten wir beide Alternativen zur Auswahl.«
    »Ist es denn möglich, Menschen in solchen Dingen zu schulen?« fragte ich.
    Ja, es sei möglich, antwortete Don Juan, und nichts anderes täte er mit mir und seinen anderen Schülern. Er wolle uns eine neue Art der Wahrnehmung lehren: erstens, indem er uns erkennen lasse, daß wir unsere Wahrnehmung so konditionieren, daß sie sich einer Form anpasst, und zweitens, indem er unsere Fähigkeit schule, Energie unmittelbar als Energie wahrzunehmen. Seine Lehrmethode, sagte er, unterscheide sich gar nicht sehr von jener anderen Methode, nach der man uns beigebracht habe, die Alltagswelt wahrzunehmen.
    Die Konditionierung unserer Wahrnehmung im Sinne der Anpassung an eine soziale Form, so glaubte Don Juan, verliert aber ihre Macht über uns, sobald wir erkennen, daß wir diese Form als Erbe unserer Ahnen unbesehen übernommen haben, ohne ihre Tauglichkeit zu prüfen.
    »Es war überlebenswichtig für unsere Vorfahren, eine Welt von festen Objekten wahrzunehmen, die entweder positiven oder negativen Wert hatten«, sagte Don Juan. »Und nach Jahrtausenden einer solchen Wahrnehmung sind wir nun gezwungen anzunehmen, daß die Welt aus festen Objekten besteht.«
    »Ich kann mir die Welt nicht anders vorstellen, Don Juan«, wandte ich ein. »Es ist doch zweifellos eine Welt fester Objekte. Den Beweis haben wir, sobald wir mit ihnen zusammenstoßen.«
    »Sicher ist es eine Welt von festen Objekten. Das will ich nicht bestreiten.«
    »Was willst du also behaupten?«
    »Ich behaupte, daß die Welt in erster Linie aus Energie besteht; und erst in zweiter Linie aus Objekten. Wenn wir nicht von der Prämisse ausgehen, daß die Welt aus Energie besteht, wird es uns nie gelingen, Energie unmittelbar wahrzunehmen. Was uns dann hindert, ist die physische Gewissheit einer Welt von festen Objekten, von der du eben noch gesprochen hast.« Seine Auffassung war mir unbegreiflich. Damals konnte ich mir einfach keinen anderen Weg zum Verständnis der Welt denken als jenen, der mir vertraut war. Don Juans Behauptungen und Ideen waren mir so fremd, daß ich sie weder annehmen noch widerlegen konnte.
    »Unsere Wahrnehmung ist die Wahrnehmung eines Raubtiers«, sagte er mir bei anderer Gelegenheit. »Sehr nützlich, um Nahrung zu finden und
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