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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens
Autoren: Carlos Castaneda
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solcher Fixierung des Montagepunktes in neuen Positionen als zweite Aufmerksamkeit und behandelten die zweite Aufmerksamkeit als eine Sphäre allumfassender Aktivität, ähnlich wie die Aufmerksamkeit des Alltagslebens es ist. Er betonte, daß die Zauberer eigentlich zwei abgeschlossene Bereiche ihres Strebens kennen: einen kleineren, den sie als erste Aufmerksamkeit bezeichnen - als Alltagsbewußtsein oder Fixierung des Montagepunktes in seiner gewohnten Position; und einen viel größeren Bereich, nämlich die zweite Aufmerksamkeit - die Bewußtheit anderer Welten oder die Fixierung des Montagepunktes in einer von unzähligen neuen Positionen.
    Im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit ließ Don Juan mich unbegreifliche Dinge erleben, und zwar durch einen Kunstgriff der Zauberer, wie er es nannte: er gab mir einen leichten Schlag auf den Rücken, manchmal auch einen kräftigen Schlag, etwa in Höhe der Schulterblätter. Dadurch verschob er meinen Montagepunkt, wie er erklärte. Aus meiner Erfahrung betrachtet, bedeuteten solche Verschiebungen, daß mein Bewusstsein in einen höchst unheimlichen Zustand nie gekannter Klarheit geriet - ein Zustand der Überbewußtheit, in dem ich zeitweilig alles voraussetzungslos verstand. Es war kein ganz angenehmer Zustand. Meistens war es wie ein seltsamer Traum, so intensiv, daß normale Bewußtheit im Vergleich dazu verblaßte. Don Juan erklärte mir, daß ein solcher Kunstgriff unverzichtbar sei. Denn im normalen Bewusstseinszustand müsse ein Zauberer seinen Schülern die Grundbegriffe und praktischen Übungen vermitteln und in der zweiten Aufmerksamkeit dann die abstrakten, ausführlicheren Erklärungen geben.
    Normalerweise erinnerten sich die Schüler gar nicht an diese Erklärungen, sagte er. aber irgendwie könnten sie diese speichern und wortgetreu im Gedächtnis bewahren. Die Zauberer nutzten dabei eine scheinbare Besonderheit unseres Gedächtnisses und hätten folglich die Erinnerung all dessen, was ihnen in der zweiten Aufmerksamkeit widerfahre, zu einer der schwierigsten und komplexesten traditionellen Aufgaben der Zauberei entwickelt. Diese scheinbare Besonderheit des Gedächtnisses und die Arbeit des Erinnerns erklärten die Zauberer nun in der Weise, daß der Montagepunkt jedesmal, wenn man in die zweite Aufmerksamkeit eintritt, eine andere Position einnimmt. Erinnern bedeute also, den Montagepunkt in genau die Position zurückzubringen, die er zu dem Zeitpunkt einnahm, als jenes Eintreten in den Zustand der zweiten Aufmerksamkeit stattfand. Don Juan überzeugte mich, daß die Zauberer nicht nur das totale und absolute Gedächtnis hätten, sondern daß sie auch jede Erfahrung erinnern könnten, die sie im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit machten: nämlich indem sie ihren Montagepunkt in die entsprechende Position zurückführten. Dieser Arbeit des Erinnerns . versicherte er mir, widmeten die Zauberer sich Zeit ihres Lebens. Im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit gab Don Juan mir sehr ausführliche Erklärungen der Zauberei, wobei er wußte, daß diese Unterweisungen bei mir wortgetreu erhalten bleiben würden, für die Zeit meines Lebens.
    Zur Qualität solcher wortgetreuen Erinnerung bemerkte er: »Im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit etwas zu lernen, ist genauso, wie wenn wir als Kinder etwas lernen. Was wir lernen, bleibt uns ein Leben lang erhalten. >Es ist mir zur zweiten Natur gewordene sagen wir etwa, wenn wir etwas meinen, das wir sehr früh im Leben gelernt haben.«
    Von meinem heutigen Standpunkt betrachtet, erkenne ich. daß Don Juan mich so oft wie möglich in die zweite Aufmerksamkeit eintreten ließ und mich zwang, für lange Zeitspannen neue Positionen meines Montagepunktes festzuhalten und in diesem Zustand kohärente Wahrnehmungen zu machen; das heißt, er wollte mich dazu zwingen, meine Gleichförmigkeit und Kohäsion neu zu arrangieren.
    Es gelang mir unzählige Male, alles so exakt wahrzunehmen, wie ich im Alltag wahrzunehmen pflege. Mein Problem lag in meiner Unfähigkeit, eine Brücke zwischen meinem Handeln in der zweiten Aufmerksamkeit und meinem Alltagsbewußtsein herzustellen. Es kostete mich viel Zeit und Mühe, bis ich verstand, was die zweite Aufmerksamkeit sei. Weniger wegen der Kompliziertheit des Sachverhalts, die allerdings beträchtlich ist. sondern weil es mir, wieder zurück in meinem normalen Bewußtseinszustand, unmöglich war, mich zu erinnern: nicht nur, daß ich in die zweite Aufmerksamkeit eingetreten war, sondern daß es
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