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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium
Autoren: Liao Yiwu
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gab Vollgas und prallte wieder gegen die Sperre, bum, bum! Zwei Trolleybusse wurden durch den Aufprall völlig verformt, und es entstand eine etwa zwei Meter breite Bresche … Wieder zog sich der Panzer zurück, und als er sich bereitmachte zum nächsten Angriff, drängten Tausende von Studenten und anderen Leuten heran, schoben die Busse an ihre ursprüngliche Position, schlossen die Bresche, hielten mit ihren Leibern die wankende Straßensperre und stellten sich dem Angriff des Stahls entgegen.
    Am frühen Morgen des 4 . Juni, so Zheng Yi weiter in seinen Erinnerungen, rückte auf der Chang’an an der Nordseite der Großen Halle des Volkes eine große Menschenmenge von Westen nach Osten vor und versuchte, zum bereits von der Armee besetzten Platz des Himmlischen Friedens durchzubrechen und die Studenten dort zu retten. An der Peripherie des Tiananmen stießen sie mit der Armee zusammen. In einer Menschenmauer rückten sie, leidenschaftlich ein Trauerlied anstimmend, vor. Wieder und wieder wurden sie von Gewehrsalven auseinandergetrieben, wieder und wieder schlossen sie sich erneut zusammen und drangen singend weiter vor. Jedes Mal gingen viele zu Boden, aber jedes Mal traten noch mehr an ihre Stelle, bis sie schließlich den in Zickzackformation aufgestellten Soldaten gegenüberstanden. Bei Morgengrauen kamen die Panzer vom Platz und stellten sich auf der Chang’an auf. Dann brüllten die Motoren, und sie rasten gegen die Menschenmauer.
    In diesem Augenblick legte sich ein einzelner Todesmutiger zunächst mitten auf die Straße, dem sich sofort andere anschlossen. Im Nu lagen Hunderte auf der Straße, sie bedeckten die Chang’an auf ganzer Breite.
    Nicht einer ist vor den drohenden Panzerketten davongelaufen. Dieses Kräftemessen mit Entschlossenheit und Kühnheit hat der Stahl verloren. Die Panzer machten Notbremsungen, »die Straße bebte, der ganze Aufbau der Panzer neigte sich vornüber«. Am Ende verschossen die Panzer Tränengasgranaten, sie trieben die Menge auseinander und setzten den Menschen durch die gelben Nebelschwaden, die ihnen den Atem nahmen, wie Furien nach. Über zehn Menschen wurden von Panzerketten zermalmt. Fünf Jugendliche starben an der Südwestecke der Liubukou-Kreuzung der Sechs Ministerien, zwei von ihnen wurden mit ihren Fahrrädern zu Brei gequetscht.
    Die Tyrannen triumphierten. Am Ende ließ sich auch Deng Xiaoping, der Mörder, sehen und sprach den Soldaten der Sonderkommandos seine Anerkennung aus. Alles löste sich auf, die »Rowdys« gingen ihnen nach und nach ins Netz, die »schlimmsten Verbrecher« wurden gefesselt vor Exekutionskommandos gestellt und öffentlich hingerichtet.
    Wu Wenjian sagt: Ich kann auch von Glück reden, dass ich nur sieben Jahre bekommen habe. Andere »Rowdys«, die im gleichen Alter waren wie ich, alles ganz gewöhnliche Arbeiter, Bauern und Kleinhändler, sind auf die Straße gegangen, um sich der Armee in den Weg zu stellen, und haben später von Schnellgerichten willkürlich wegen »Plünderei« schwere Strafen bekommen und sind für Jahre hinter Gittern verschwunden. Ach, und wie viele von ihnen waren noch unschuldig, sie hatten noch nicht einmal das Küssen gelernt, und als sie herauskamen, waren sie schon in mittleren Jahren, verstanden die Gesellschaft nicht mehr, wussten nichts vom anderen Geschlecht und waren völlig außerstande, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen. Was sollten sie tun? In ihrem fortgeschrittenen Alter konnten sie sich nur mit ihren greisen Eltern auf engem Raum zusammendrängen und deren Rente durchbringen. Manche brachten nicht einmal mehr den Mut auf, vor die Tür zu gehen. In den Jahren hatte sich die Stadt zu sehr verändert, es wäre zu lächerlich, wenn sie sich in einer Gegend verirren würden, in der sie aufgewachsen waren.
    Mir wurde schwer ums Herz, denn ich hatte mich auch in der Gegend, in der ich aufgewachsen war, verirrt; dann, in den Jahren nach 2005 , habe ich mich mit Wu Wenjian unter diese vom China des Booms und der Tyrannei ausgegrenzten und vergessenen Randgruppen gemischt.

5
    Über Jahre habe ich in aller Heimlichkeit im Untergrund zahllose Interviews geführt, doch noch mehr Interviews mit den haarsträubendsten Details habe ich, weil sich die Gesprächspartner zurückzogen oder ihre Zustimmung verweigerten, nicht in Buchform veröffentlichen können. Am 4 . Juni waren die Sondereinsatzkommandos überall unterwegs, nicht wenige starben unter ihren Schlägen und Tritten.
    Von der ersten Gruppe
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